1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Clarkes offenbar fester Entschluss, dass Daniel Millers Label das richtige für Depeche Mode war, besiegelte die unmittelbare gemeinsame Zukunft. Als einziges hauptberufliches Mitglied der Band – die anderen hatten ja immer noch Jobs oder gingen aufs College – trieb Vince die anderen an, die sich entweder noch nicht entschließen konnten oder einfach untätig blieben. Martin Gore stimmte zwar mit Clarke und Miller überein, aber wer weiß, ob die Band bei Mute Records geblieben wäre, wenn Clarke, Miller und Gore nicht einen leichten, aber unablässigen Druck auf die anderen Bandmitglieder ausgeübt hätten. Gores Kommentar dazu 1988: „Warum schlossen wir nicht mit einer der großen Firmen ab? Es wäre doch sehr verlockend gewesen. In der Rückschau fällt mir eigentlich nicht so recht etwas ein, weshalb wir es nicht taten, aber es war letztlich zu unserem Glück. Kann man sich vier achtzehnjährige Knaben ohne einen Penny vorstellen, denen Summen in Höhe von zweihunderttausend Pfund geboten werden? Aber unsere Entscheidung, bei Mute zu bleiben, war die beste, die wir je getroffen haben.“
Daniel Miller war sich sehr wohl über das fügsame Wesen von Gore im Klaren – es wurde sogar Gegenstand eines Witzes innerhalb der Band: „Martin scheut vor Entscheidungen zurück, also lässt er die Dinge eher an sich vorbeiziehen, als dass er einen Einwand erhebt. Wir nannten dieses Verhalten immer das ‚Arsenal-Syndrom‘, denn als wir uns näher kennenlernten, erzählte er uns einmal eine Geschichte dazu. Wir redeten gelegentlich über Fußball und wer Fan von welchem Club war. Da sagte er: ‚Ich glaube, ich bin ein Arsenal-Anhänger.‘ Ich fragte: ‚Wie meinst du das?‘ Da berichtete er, er sei immer mit dem Vater eines Freundes zu den Spielen von Arsenal gegangen, und er fügte hinzu: ‚Eigentlich machte mir das in den letzten fünf Jahren gar keinen Spaß mehr, aber ich wollte es nicht sagen, also ging ich weiter mit.‘ Das sagt eigentlich alles über Martin aus. Er setzt sich nicht mit Dingen auseinander. Lieber langweilt er sich jeden Samstagnachmittag zu Tode, als dass er jemanden vor den Kopf stößt, indem er sagt, dass er keine Lust hat. Irgendwie ist das ja auch wieder sehr liebenswürdig.“
Gahan, von Natur aus offener in seinem Wesen, gibt aber zu: „Der wirkliche Grund, warum wir nicht mit einem größeren Label abschlossen, war wahrscheinlich der, dass wir das durch unsere Unentschlossenheit verpassten. Daniel Miller bemühte sich um uns, übte aber keinen Druck auf uns aus. Was auch immer die anderen uns böten, sagte er, er würde sein Bestes tun, um mit ihnen zu wetteifern, und wenn wir unsere Singles in den Charts sehen wollten, dann würde er alles daransetzen, das zu erreichen.“
Sämtliche Mitglieder von Depeche Mode, so Daniel Miller, seien sehr begeistert davon gewesen, wie sie von dem alternativen Indie-Label Mute behandelt wurden. „Bei einem Label zu sein, wo die Leute zur Band ein enges persönliches Verhältnis haben, war für Depeche Mode wichtig, und das ist ja im Grunde das Wesentliche an einem Independent-Label. Die Jungs wollten in die Indie-Charts kommen, und außerdem mochten sie die Leute nicht, mit denen sie bei den großen Plattenfirmen Kontakt gehabt hatten.“
Das Tempo ihres Aufstiegs überraschte die Musiker – darauf waren sie nicht vorbereitet. Nach Millers Empfinden waren Gore und Fletcher am meisten davon verwirrt. „Dave und Vince waren weitaus ehrgeiziger als die beiden anderen. Die gaben mir das Gefühl, dass sie sich ja eher für eine Amateurband hielten und nur spielten, weil es ihnen Spaß machte. Sie hatten gerade erst begriffen, dass sie wirklich gut waren.“ Fletcher bestätigt das: „Vince lebte von Arbeitslosengeld und drängte uns immer voran, ehrgeizig, wie er nun mal war. Martin und ich hatten solche Ambitionen nicht, wir zwei sind Faulpelze.“
Zu diesem Zeitpunkt hatten Gore und Fletcher begonnen, innerhalb von Depeche Mode eine Arbeitseinheit zu bilden. „Anfangs war Fletch die andere Hälfte von Martin, sozusagen sein Sprachrohr – sie ergänzen einander einfach perfekt“, sagt Miller. „Andy ist absolut pragmatisch, sehr ehrlich und scheut nicht vor Konfrontationen zurück, er sucht sie geradezu; Martin hingegen ist verträumt, künstlerisch und vermeidet Konfrontationen um jeden Preis.“
Anfang 1981 arbeiteten die beiden noch in der City und hatten keinerlei Neigung, ihre Jobs hinzuwerfen, besonders Fletcher, der ja keine ausgesprochene Musikernatur war. Der hitzige Gahan ließ sich am meisten beeindrucken, während die anderen zunächst eher vorsichtig und misstrauisch blieben. Diese abwartende Haltung der Band gab Fletcher und Gore die Zeit, erst einmal zu sehen, wie erfolgreich sie nun tatsächlich wurden, ehe sie die wirtschaftliche Sicherheit, die ihnen ihre Jobs boten, aufgaben. Sie vertrauten auf den Rat Millers und genossen die Atmosphäre eines Independent-Labels in dem Bewusstsein, jederzeit wieder aussteigen zu können. Miller legte noch immer keinen Wert auf einen schriftlichen Vertrag. „Wir hatten ohne Vertrag vereinbart, dass wir alle Einnahmen innerhalb von Großbritannien jeweils genau zur Hälfte teilen und dass sie für die restliche Welt siebzig Prozent bekommen, was für eine neue Band ein gutes Geschäft ist“, sagt der Mute-Chef zwanzig Jahre später. „Auch jetzt haben wir praktisch dieselben Abmachungen, aber aus den Verkäufen im Ausland erhalten sie nun noch ein erheblich höheres Einkommen. Wir arbeiten noch immer auf der Fünfzig-zu-fünfzig-Basis, aber natürlich sind die Beträge, die wir uns teilen, weitaus größer als am Anfang.“
Fletchers Kommentar: „Uns war die prozentuale Teilung der Gewinne durchaus recht. Keine große Plattenfirma hätte uns einen solchen Vertrag gegeben wie Mute. Allerdings hatten wir in den ersten zwei Jahren natürlich nur wenig Geld zur Verfügung, denn einen saftigen Vorschuss bekamen wir ja nicht.“
Welche Gründe auch immer die Band zunächst bewogen, bei Mute zu bleiben, ihr Freund Daryl Bamonte ist überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. „Daniel wurde seinerzeit ihr Mentor“, sagt er. „Sie hatten ein Mordsglück, dass sie ihn gefunden hatten. Wenn sie einem ‚normalen‘ Manager begegnet wären, hätte der erst einmal gewaltigen Druck gemacht, um sie so schnell wie möglich zu so viel Erfolg wie möglich zu drängen, so wie bei Duran Duran oder Culture Club. Dann hätten sie den Pyramideneffekt erlebt, steil hinauf und steil wieder runter. Aber Daniel ließ sie ihre eigenen Entscheidungen treffen und auch ihre eigenen Fehler machen, was zu ihrer natürlichen Entwicklung beitrug. Depeche Mode waren die Verwirklichung der Silicon Teens. Hier hatte Daniel die Band gefunden, die er sich zunächst nur ausgedacht hatte, und ich glaube nicht, dass er sich diesen erfüllten Wunschtraum nur für ein Jahr gönnen wollte; er dachte viel langfristiger.“
Mit ihrer unmittelbar gesicherten Zukunft ging die vollelektronische Viermannband erst einmal in die Blackwing-Studios, eine nicht mehr benutzte Kirche in Hallows in Südostlondon, um ein Stück von Vince Clarke, „Dreaming Of Me“, als erste Single für Mute einzuspielen. Miller hatte Blackwing entdeckt, als er sein Silicon-Teens-Projekt produzierte, für das er einen großen Regieraum brauchte, in dem er alle seine Synthesizer aufbauen konnte. „Die meisten Leute in den Studios meinten damals, wenn du keinen Drummer und keinen Gitarristen hast, dann sei das auch keine richtige Musik. Mit diesen schwarzen Kästen könne man überhaupt nicht Musik machen“, erzählt Miller. „Dennoch war Eric Radcliffe, damals Toningenieur bei Blackwing, sofort begeistert von der Idee, mit einer Synthie-Band zu arbeiten. Er hatte keine Erfahrung mit elektronischer Musik, aber er war ein sehr kreativer Musiker und hatte viel technischen Verstand. Ich glaube, er arbeitete damals an seiner Doktorarbeit über Lasertechnik. Wir hatten zuerst viele Probleme mit den Synthesizern, denn eigentlich waren sie gar nicht für das konstruiert, was wir von ihnen erwarteten, und dabei war Eric eine große Hilfe.“ Jahrelang spielten alle Bands von Mute ihre Platten bei Blackwing ein, und Vince Clarke erwies Radcliffe mit seinem späteren Synthie-Pop-Duo Yazoo sogar dadurch seine Reverenz, dass er das erste Album Upstairs At Eric’s nannte.
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