Jens Hacke
Liberale Demokratie
in schwierigen Zeiten
Weimar und die Gegenwart
In Erinnerung an
Hans-Christoph Schröder (1933–2019)
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Coverabbildung: Kurt Schwitters, »Merzbild 25 A. Das Sternenbild«,
bpk / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf / Walter Klein
Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-574-0
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Print: ISBN 978-3-86393-111-7
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de
Einleitung: Weimar und die Gegenwart
Orientierungen
Das Wagnis der Demokratie
Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise
Max Weber – Interpret der Moderne an der Schwelle zur Demokratie
Die Herausforderung des Autoritarismus
Selbsttäuschung aus Enttäuschung
Robert Michels’ Parteiensoziologie auf dem Weg von der Demokratie in den Faschismus
„Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“
Liberale Faschismusanalysen in den 1920er Jahren und die Ursprünge der Totalitarismustheorie
Carl Schmitt – Antiliberalismus, identitäre Demokratie und Weimarer Schwäche
Liberale Vernunft
Demokratischer Kapitalismus
Moritz Julius Bonns Defizitanalyse der wirtschaftlichen Ordnung in der Weimarer Republik
Ein Liberalismus der Ambivalenz
Überlegungen zu Thomas Manns politischem Denken
Probleme in Vergangenheit und Gegenwart
Stabilität durch „Wehrhaftigkeit“?
Karl Loewenstein und die Debatte um die gefährdete Demokratie
Die Fragilität der Demokratie
Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik
Krise der repräsentativen Demokratie – gestern und heute
Nationalismus und Liberalismus – eine komplizierte Beziehungsgeschichte
Anmerkungen
Literatur
Drucknachweise
Einleitung: Weimar und die Gegenwart
„Bonn ist nicht Weimar“ – diese sprichwörtlich gewordene Diagnose des Schweizer Publizisten Fritz Réné Allemann aus dem Jahr 1956 beinhaltete die Staatsräson der Bundesrepublik. Warum Weimar scheiterte und was den Nationalsozialismus an die Macht brachte, diese Fragen gehörten zum Selbstverständnis einer Nachkriegsdemokratie, die aus der Geschichte gelernt hatte. Mit jedem Jahrzehnt rückte die Zwischenkriegsepoche mit ihren politischen Extremen ferner: Radikalnationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiliberalismus, Irrationalismus und Gemeinschaftssehnsucht – diese Verirrungen konnten mit Verweis auf bewegte Zeiten, die psychosozialen Folgen des Krieges und die Verzweiflung angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs erklärt werden. Alles sehr weit weg. Lange schienen die Lektionen aus der Geschichte verinnerlicht, und die Welt der (Ur)Großeltern lieferte den Rahmen für schaurige Historienfilme, ähnlich fremd wie das Mittelalter.
In der letzten Zeit hat sich die gefühlte Überlegenheit der Nachgeborenen verflüchtigt. Wenn vom Aufschwung des Rechtspopulismus und von der Krise der Demokratie die Rede ist, sind die 1920/30er Jahre wieder bedrohlich nahe an die Gegenwart herangerückt. „Nächste Ausfahrt Weimar?“, fragte nach den Ereignissen von Chemnitz im Spätsommer 2018 Albrecht von Lucke, einer der führenden Publizisten der Republik. Die Kooperation bürgerlicher Parteien mit der AfD im Thüringer Landtag, um Anfang Februar 2020 die Wahl des FDP-Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten zu bewerkstelligen, weckte vielfach Weimar-Assoziationen. Der renommierte Historiker Timothy Snyder diagnostiziert ein Revival faschistischer Ideologie, in Russland, aber auch in den USA, und sieht die westliche Welt auf dem Weg in die Unfreiheit. Politikwissenschaftler sinnieren darüber, wie Demokratien scheitern und zerfallen. So sehr sich die historischen Umstände nach neun Jahrzehnten unterscheiden, so sensibel registrieren die Ideenhistoriker ihre Déja-vu-Erlebnisse. In der Tat reaktivieren die nationalistischen Homogenitätsfantasien europäischer Populisten das Vokabular von Rechtsintellektuellen wie Carl Schmitt. Ressentiment und Aggression richten sich gegen das Fremde und gegen diejenigen, die für Pluralität, Toleranz und kulturelle Vielfalt eintreten. Schuld an allem sind die Liberalen, damals wie heute.
Beschleunigter Fortschritt, sozialer Wandel, internationale Krisen und ökonomische Ungewissheit machen Demokratien erneut anfällig für den Irrationalismus. Statt komplizierter Problembewältigung will man einfache Lösungen, statt mühsamer Kompromisssuche herrscht die Sehnsucht nach Führung von oben, statt Möglichkeiten für das politische Engagement wahrzunehmen, erklärt man die politische Elite zum Sündenbock.
Zutiefst irritierend ist allerdings, dass uns kein adäquater Krisenbegriff zur Verfügung steht, der uns hilft, die gegenwärtige Situation zu verstehen. Sozioökonomisch war in Deutschland vor Corona keine größere Not erkennbar als in früheren Jahren. Im Gegenteil: Die Wirtschaft boomte, die Arbeitslosigkeit bewegte sich auf einem historischen Tiefstand, und Haushaltsüberschüsse boten politische Handlungs- und Verteilungsspielräume wie niemals zuvor. Trotzdem erreichte die Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik ein bislang ungekanntes Ausmaß.
Das Misstrauen in das politische System zeigt sich am Erfolg der Rechtspopulisten überdeutlich. Ihnen gelingt es, als reine Protestparteien, Ablehnung und Unzufriedenheit zu bündeln, ohne auch nur den Ansatz einer tragfähigen politischen Programmatik erkennen zu lassen. Als die AfD Mitte 2015 vor dem Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit stand, sicherte sie sich durch die monothematische Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage ihr vorläufiges Überleben. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, lediglich die Rechtspopulisten zu dämonisieren und nicht nach den Schwächen der etablierten Parteien zu fragen.
Die Krise wurzelt mithin in tieferen Ursachen und kollektiven Projektionen, in Statusverlustängsten und im Gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen, benachteiligt zu sein. Dabei verweist die Abkehr von der liberalen Demokratie auf drei Defizite, die oberflächliche Strukturähnlichkeiten zur Weimarer Lage aufweisen. Erstens werden die Leistungsfähigkeit und die demokratische Legitimation der parlamentarisch-repräsentativen Regierungsweise generell in Frage gestellt. Zweitens traut man der liberalen Demokratie nicht mehr zu, hinreichend für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen und Antworten auf Sinnfragen zu finden. Drittens gibt es einen Vorbehalt gegenüber den Verteilungsungerechtigkeiten einer kapitalistischen Ordnung; auch die Wendung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge ist dafür ein Zeichen, denn sie vollzieht sich in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass sich ein Anrecht auf Unterstützung auf Staatsbürger*innen beschränken sollte. Dieser Umstand kennzeichnet eine Leerstelle: Soziale Gerechtigkeit und prekäre Lebensumstände werden weder zureichend problematisiert noch Gegenstand politischer Auseinandersetzung.
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