Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen. 30
Es scheint mir wichtig, vor allem die Heterogenität dieser Gruppe zu betonen, die dann in der Bundesrepublik so einflussreich werden sollte, weil sie den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft mit begründete. Eucken kam aus national-konservativem Milieu und hatte mit der Weimarer Republik anfangs wenig im Sinn: sein politischer Weg ist ein Lernprozess, der ihn über die Begeisterung für liberale Wirtschaftstheorie langsam in die moderne Demokratie führte; Rüstow stand ursprünglich sozialistischen Positionen um Franz Oppenheimer nahe, machte aber bereits in Weimar Karriere als Lobbyist und gehörte zum Schattenkabinett Kurt von Schleichers; eigentlich war nur Röpke zu Weimarer Jahren schon als politischer Liberaler anzusehen. Die in den letzten Jahren populär gewordenen, sehr gegensätzlichen Interpretationen des Ordoliberalismus zeigen die Schwierigkeit, diese Ökonomen politisch zu interpretieren: So gibt es einerseits Foucaults Lesart von einer neuen ordoliberalen Regierungstechnik (Gouvernementalität), die still und leise dem Liberalismus all seine normativen Elemente nimmt und den Freiheitsbegriff eliminiert. 31Andererseits hat Philip Manow versucht, die vormodernen Sittlichkeitsvorstellungen und die Elemente einer christlichen Ethik im Denken der Ordoliberalen herauszustellen, die es fraglich erscheinen lassen, hier überhaupt noch von Liberalismus zu reden. 32
Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins die Weimarer Liberalen waren, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf The Good Society von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus. 33Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären Lippmann-Colloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten. 34
2. Antitotalitarismus: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie. 35Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert werden, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator jenseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. Die Haltung zum Faschismus wurde zum Lackmustest für liberale Standhaftigkeit.
3. Wehrhafte Demokratie: Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, rückte von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z.B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt. 36Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert. „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen“, forderte er damals. 37Loewenstein sollte später aber auch herausstellen, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege.
So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Hinwendung zur Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohungen durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation.
5. Fazit
Die Ereignisse des Jahres 1918/19 werden bisweilen mit der Epochenzäsur von 1989 verglichen. Tatsächlich liegt ein verbindendes Element darin, dass nicht wenige eine vermeintliche Alternativlosigkeit westlicher Werte zu erkennen meinten. Sicherlich, eine solche Sichtweise ignoriert die parallelen zeitgenössischen Hoffnungen, die sich auf den Sozialismus und die Ausbreitung der Revolution stützten. Aber von liberaler Warte aus wähnte man sich mit der Durchsetzung der liberalen Demokratie an einem „Ende der Geschichte“. In einem „Wilsonian Moment“ glaubte man an die Universalisierung des gerade geborenen westlichen Modells, das Demokratie, liberalen Konstitutionalismus und internationale Verständigung im Rahmen des neu zu gründenden Völkerbundes vereinte. 38So lassen sich – in der Vielfalt der Perspektiven – die Weltkriegsniederlage und die damit einhergehende Staatsgründung in ihren Effekten als eine Transformationsphase begreifen. Unter den Bedingungen der Massendemokratie musste der Liberalismus sich gesellschaftspolitisch in einer Weise modernisieren, die einer Neuerfindung gleichkam.
Der ideelle Aufbruch, als der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht zu betrachten ist, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit.
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