Auf den ersten Blick scheint jedoch die wiederholte Geburt desselben Individuums in dieser überwältigenden universalen Einheit nicht unbedingt notwendig zu sein. Für den logischen Intellekt könnte es wie ein Widerspruch erscheinen, da alles hier das eine Selbst, der Geist, die in die Natur hineingeborene Existenz ist, die eine Fülle von Formen annimmt und über viele Abstufungen ihrer Phasen der Selbstenthüllung emporsteigt. Dieses summarische Entzweischneiden der Existenz in das Ich und das Nicht-Ich, das unseren egoistischen Begriff von den Dingen und Verhältnissen so bequem machte und eine für das Handeln so machtvolle Denkweise war, könnte ein bloßer praktischer oder mechanischer Einfall des einen Geistes sein, um die Sondererscheinung seiner Geburt und die bewusste Abweichung vom gemeinsamen Vorgehen abzustützen, ein Zaubertrick der universalen Intelligenz; es ist nur eine offenbare Tatsache des Seins; nicht dessen Wahrheit – es gibt keine Abtrennung, nur eine allumfassende Einheit, einen einzigen Geist. Aber ist das nicht möglicherweise wieder ein Ausschlagen in das andere Extrem? Wie das Ego eine übermäßige Spaltung in der Einheit des Seins war, so kann diese Vorstellung eines Ozeans der Einheit, in dem unser Leben nur eine unbeständige augenblickliche Welle wäre, etwas für die Welten-Ordnung Unentbehrliches gewaltsam herausschneiden. Individualität ist für die Art und Weise des Geistes der Existenz etwas so Wichtiges wie Universalität. Das Individuum ist jenes mächtige Geheimnis von dessen Sein, auf welches das Universale Gewicht legt und sich stützt und aus dem es den Knoten der Macht für sein ganzes Wirken bildet: Wie das Individuum an Bewusstsein, Weitsicht, Wissen und an der ganzen göttlichen Macht und Qualität wächst, so nimmt es auch immer mehr das Universale in sich selbst, aber auch sich selbst im Universalen wahr, gewahrt seine eigene Vergangenheit, die in dem vergänglichen Körper weder begann noch endete, sondern sich künftigen Zielen öffnet. Wenn es der Zweck des Universalen in unserer Geburt ist, sich seiner selbst bewusst zu werden und sein Sein zu besitzen und zu genießen, wird dies doch durch das Blühen und Sichvollenden des Individuums geleistet; wenn der Endzweck die Flucht aus seinem eigenen Tun wäre, wäre es doch das Individuum, das entkäme, während das Universale sich damit zufriedengäbe, seine mannigfaltigen Geburten in alle Ewigkeit fortsetzen zu können. Daher würde das Individuum als wahre Macht des Geistes erscheinen und nicht als bloße Illusion oder ein bloßer Einfall, außer insofern, als das Universale ebenfalls, wie manche sagen würden, eine ungeheure Illusion oder ein großartiger, aufgezwungener Einfall sein könnte. Auf dieser Linie kommen wir zu der Vorstellung einer großen spirituellen Existenz, in der das Universale und das Individuelle Zwillingskräfte sind, zwei Pole ihrer Manifestation, unbegrenzte Peripherie und vielfaches Zentrum der in Tätigkeit versetzten Wirklichkeiten ihres Seins.
Dies ist eine Art, die Dinge zu sehen, in ihrer Kompliziertheit ist sie zumindest harmonisch, sie ist geschmeidig und lässt sich zu einem gewissen allumfassenden Horizont erweitern, und sie kann uns als Grundlage für unsere Gedanken zur Wiedergeburt dienen – eine aufsteigende Einheit, ein im materiellen Dasein eingeschlossener Geist, der durch das Leben hindurch zum organisierten Mental viele Stufenfolgen herrlich erklimmt und über das Mental hinausgeht zur Evolution seiner eigenen vollen Selbstgewissheit, wobei das Individuum diesem Stufengang und der Kraft zu seiner Selbstkrönung folgt. Wenn das menschliche Mental das letzte Wort seiner Möglichkeit auf Erden ist, dann muss die Wiedergeburt im Menschen enden und jäh aufhörend entweder zu einem Dasein auf anderen Ebenen übergehen oder sich zur Auflösung ihres spirituellen Kreislaufs anschicken. Wenn es aber höhere Mächte des Geistes gibt, die durch Geburt erreichbar sind, dann ist der Aufstieg nicht beendet, ein höheres Annehmen von Körpern kann vor der Seele liegen, die jetzt zur Vollendung der hohen Menschheitsstufe gelangte und emporgehoben wird. Es ist sogar möglich, dass diese aufsteigende Wiedergeburt nicht der lange Raketenschuss eines bewussten Wesens aus der Materie heraus nach oben ist oder ihr wirbelndes Kreisen im Mental, dazu bestimmt, in der hohen Luft eines ruhigen Nichts oder einer schweigenden, zeitlosen Unendlichkeit nachzulassen und sich aufzulösen, sondern ein Fortschritt zu großer Tat und hoher Entfaltung des Göttlichen Wesens, das seiner unbeirrbaren Absicht in einer ewigen Schöpfung eine weise, glorreiche Bedeutung gibt. Oder dies kann zumindest eine Macht des unendlichen Wirkungsvermögens des Ewigen sein.
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Kapitel 7
Involution und Evolution
Worte Sri Aurobindos
Der westliche Evolutionsgedanke ist die Aussage über einen Gestaltungsprozess, keine Erklärung unseres Seins. Auf die physikalischen und biologischen Daten der Natur beschränkt, macht er nicht, beziehungsweise nur summarisch oder oberflächlich den Versuch, seinen eigenen Sinn zu entdecken, sondern er begnügt sich damit, sich als das allgemeine Gesetz einer ganz geheimnisvollen und unerklärlichen Energie darzustellen. Die Evolution wird zu einem in Bewegung befindlichen Problem, das sich damit zufrieden gibt, mit automatischer Regelmäßigkeit sein eigenes Puzzle zu bearbeiten, es jedoch nicht zu lösen, denn da die Evolution nur ein Prozess ist, versteht sie sich selbst nicht, und da sie ein blinder, immerwährender Automatismus mechanischer Energie ist, hat sie weder Ursprung noch Ergebnis. Sie hat vielleicht einmal begonnen oder sie beginnt immer; vielleicht wird sie mit der Zeit anhalten beziehungsweise sie macht immer irgendwo Halt und kehrt zu ihrem Anfang zurück, aber es gibt kein Wozu, nur großes Getöse und viel Wirbel um das Wie ihres Anfangens und Aufhörens; denn ihre Tätigkeiten entspringen keiner spirituellen Absicht, sondern nur der Kraft rastloser materieller Notwendigkeit. Der alte Evolutionsgedanke war die Frucht philosophischer Intuition, der moderne ist ein Produkt wissenschaftlicher Beobachtung. Beiden fehlt etwas, wie wir gesehen haben, doch der alte erfasste den Geist der Entwicklung, wo der moderne sich mit der Form und dem äußerlichsten Mechanismus begnügt. Der Sankhya-Denker gab uns die psychologischen Elemente des gesamten Evolutionsprozesses an die Hand, analysierte Mental und Sinne und die subtile Grundlage der Materie und erriet einige Geheimnisse der ausführenden Energie, hatte aber kein Auge für die Einzelheiten der physischen Arbeit der Natur . Auch sah er in ihr nicht nur die einhüllende augenfällige aktive Kraft, sondern die tragende, verborgene spirituelle Wesenheit, obwohl er infolge seines übermäßig analytischen Intellekts und besessen von dessen Liebe zu scharfen Spaltungen und symmetrischen Gegensätzen das Zusammensein von Seele und Kraft durch einen ursprünglichen und ewigen Abgrund beziehungsweise eine Trennungslinie voneinander schied. Der moderne Wissenschaftler strebt danach, aus der naturwissenschaftlichen Methode, deren sorgfältiges Funktionieren er ermittelt hat, ein vollständiges System und eine komplette Institution zu machen, er ist jedoch blind für das Wunder, das in jedem Schritt steckt, oder er nimmt es hin, dass das Gefühl dafür in der befriedigten Beobachtung eines weitgeordneten Phänomens verlorengeht. Doch immer bleibt das Wunder der Dinge, das mit dem unerklärlichen Wunder alles Daseins eins ist – wie es auch in den alten Schriften heißt:
ascaryavat pasyati kascid enam,
ascaryavad vadati tathaiva canyah;
ascaryavac cainam anyah srnoti,
srutvapyenam veda na caiva kascit.
„Man schaut es an und sieht ein Wunder,
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