„Hallo, meine Schöne“, gurrte sie. Die Stute sah sie mit Augen voller Misstrauen an. Ihre Ohren drehten sich ständig vor und zurück und sie zitterte, doch als Bianca weiter mit dem Fohlen sprach und ihre Hand ausgestreckt hielt, entspannte sie sich ein wenig.
Sie konnte sowohl Toms als auch Clays Blicke auf sich fühlen, als sie mit der Stute im Round Pen stand und ihr Herz schwoll an vor Stolz. Annie hatte ihr immer gesagt, dass sie eine Gabe im Umgang mit Pferden hatte, doch bisher hatte sie noch nie die Möglichkeit gehabt zu sehen, wie viel sie wirklich konnte.
„Ruhig, mein Mädchen. Ruhig, Rose.“ Bianca sprach leise, versuchte, das Pferd zu beruhigen, während sie näher kam und ihre Hände über den gebrochenen Körper gleiten ließ. Sie in diesem Zustand zu sehen, den Schrecken, den sie fühlte, brach ihr das Herz. Ihre Ohren bewegten sich unablässig, das Weiße ihrer Augen war zu sehen und sie zitterte noch immer. Wut durchfuhr sie, als sie das Ausmaß des Missbrauchs erkannte, den die Stute erfahren hatte.
Statt in den ruhigen Stunden nach Hause zu fahren, um mehr wertvolle Zeit mit Annie zu verbringen, blieb Bianca mit dem Fohlen im Round Pen, wo sie mit ihr arbeitete, ihr Vertrauen gewann und ein Band mit ihr knüpfte. Als es am Nachmittag Zeit für ihre Stallpflichten wurde, lief die Stute nervös neben Bianca die breite Stallgasse hinunter, bis sie eine der Boxen ganz am Ende erreichten.
Bianca blieb eine Weile bei ihr, lehnte sich über die halbe Tür und beobachtete, wie sich das Fohlen eingewöhnte. Sie sah auf, als sie näher kommende Schritte hörte, und blickte direkt in das Gesicht eines groß gewachsenen, blonden Mannes, der genau wie Clay aussah. Er schien ein oder zwei Jahre jünger zu sein als Clay, doch es war offensichtlich, dass sie Brüder waren. Wie Clay hatte er einen Bartschatten, freundliche Augen und sein Haar war zu lang und wirr und könnte einen Schnitt vertragen. Doch er roch anders als Clay, stellte sie fest, als er näher trat. Er hatte nicht diesen berauschenden Pferdeduft an sich; er roch mehr nach Gras, Getreide, Erde, Hund und noch etwas anderes, das sie nicht identifizieren konnte. Er roch wie ein Farmer.
„Cody.“ Er hielt ihr eine dreckige Hand hin und sie schüttelte sie schüchtern, als seine riesige Hand ihre umfasste. Er war sogar noch größer als Clay und wirkte noch autoritärer, falls das überhaupt möglich war. Sie kannte ihn gar nicht und trotzdem fühlte sie sich zu ihm, zu seiner autoritären Art hingezogen. Er zeigte in Richtung Pferd. „Wer ist das?“
„Das ist Rose. Sie kam heute an. Sie hätte ruhig gestellt sein sollen, aber es hat nicht lange genug angehalten. Als sie hier ankam, kämpfte sie und trat um sich.“ Bianca lächelte stolz bei der Erinnerung. Sie mochte temperamentvolle Pferde. Doch ihr Lächeln verschwand schnell, als sie sich daran erinnerte, warum die Stute hier war. „Sie ist furchtbar missbraucht worden.“
Cody nickte und trat näher und stellte sich neben sie an die Tür. Sofort legte die Stute die Ohren an und raste mit gebleckten Zähnen auf ihn zu. Dieses bösartige, angsteinflößende Verhalten ließ Cody hastig einen Schritt zurücktreten, dann pfiff er leise.
„Sie hat nur Angst“, sagte Bianca sanft. „Alles okay, mein Mädchen“, sagte sie leise zum Pferd, das jetzt ruhig dastand, zitternd und mit bebenden Nüstern.
„Ist sie verrückt?“, fragte Cody.
Bianca schüttelte den Kopf. „Nur verängstigt. Sie ist furchtbar missbraucht worden.“ Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn von oben bis unten an. „Kennen Sie sich nicht mit Pferden aus? Ist es denn nicht offensichtlich, was sie durchgemacht hat?“
„Nö.“ Cody schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Farmer. Wir haben Schafe und Kühe hier, bauen etwas Getreide an und trainieren auch Pferde. Paps kümmert sich um die Pferde, Mas Bruder war immer schon der Farmer – es ist ein Familienbetrieb. Doch seit Onkel Max gestorben ist, kümmere ich mich um die Farm. Mich bekommt man nicht auf eines dieser verrückten Biester – da sind mir Motorräder viel lieber!“
„Oh.” Bianca lächelte, als sie sich fragte, ob Luke, der dritte Bruder, genauso gut aussah wie die beiden, die sie schon getroffen hatte. Und ob er auch nett war ... Es war schon eine ganze Weile her, seit ein gut aussehender Mann ihr Beachtung geschenkt hatte – normalerweise waren sie nicht mehr interessiert, sobald sie von ihren Tics erfuhren.
„Lässt Paps sie bleiben?“ Cody klang skeptisch.
Bianca nickte. „Vorerst.“ Obwohl sie wusste, dass das nicht wirklich stimmte – denn noch hatte Tom seine Meinung noch nicht geändert, das Pferd einschläfern zu lassen. Zumindest nicht so weit sie wusste.
Cody blieb noch ein paar Minuten und beobachtete das Pferd und sie aus dem Augenwinkel. Es war offensichtlich, dass er sie abcheckte, obwohl er versuchte, es zu verstecken, und ein kleiner Schauer der Erregung durchfuhr sie im gleichen Moment wie eine Welle der Panik – ein Tic wollte raus. Der Druck baute sich hinter ihren Augen auf und es wurde schwerer und schwerer, ihn zurückzuhalten.
Sie konnte ihn nicht länger unterdrücken. Sie wandte sich von ihm ab und versuchte, den Tic so gering wie möglich zu halten, doch sie wusste auch, dass er die Bewegung mitbekommen würde, falls er sie beobachtete. Wäre er dann immer noch freundlich zu ihr?
„Alles okay bei dir?“
Sie nickte. „Mir gehts gut.“
„Aber dein Gesicht ...“ Er verstummte, als er ihre Gesichtsverrenkungen kommentierte.
„Es heißt Tourette-Syndrom“, schnappte sie. „Frag Clay danach. Oder noch besser, google es doch einfach. Die Medien erzählen dir alles darüber, was sie glauben, das du wissen musst.“ Ihr Ton war bitter, als sie ihm die Worte entgegenschleuderte, doch das war ihr egal. Die Lewis-Brüder hatten schon genug Gelegenheit, ihr Tourette zu verurteilen.
Cody trat einen Schritt zurück und sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Dann lass ich dich mal allein.“
„Tu das.“ Ihr Herz brannte bei diesen Worten. Sie war schon so oft zurückgewiesen worden, doch jede neue Abfuhr tat wieder weh. Würde sie jemals einen Mann finden, der sie einfach akzeptierte, wie sie war?
* * *
„Schau mal!“ In Annies Stimme klangen Stolz und Aufregung mit, als sie den hellblauen Babybody hochhielt, den sie gerade gestrickt hatte.
Bianca lächelte, doch sie war viel zu müde, um viel zu spüren. Die Erschöpfung war nicht nur körperlich, sie war auch mental vollkommen fertig. Das Fohlen in so einem furchtbaren Zustand zu sehen, war schwierig und ihr Vertrauen zu gewinnen, nicht einfacher gewesen. Und nach all ihrer Arbeit hatte Tom ihre Zukunft nicht garantieren können. Es wollte ihr das Herz zerreißen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich neben Annie setzte, um ihr von ihrem Tag zu erzählen.
„Du kannst ihr helfen, Bee; du hast eine Gabe.“
Bianca nickte. „Ich habe schon einiges geschafft heute. Ich hoffe nur, es ist genug.“
Annie lächelte nur. „Das hoffe ich auch.“
* * *
Obwohl sie vollkommen erschöpft ins Bett ging, wälzte sich Bianca die ganze Nacht hin und her. Sie bekam das Bild der traumatisierten Stute nicht aus dem Kopf, konnte ihre entsetzten Schreie nicht vergessen, als sie im Anhänger um sich trat. Das Bild, wie die Männer sie mit einem großen Stock aus dem Anhänger scheuchten, hatte sich eingebrannt. Und sie konnte Annie nicht vergessen, und wie schnell es mit ihr bergab ging. Jeden Tag wurde sie schwächer. Wie viel Zeit hatte sie noch?
Читать дальше