Tarjei Vesaas - Die Vögel

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Tarjei Vesaas (1897–1970) ist mit zwei meisterhaften Romanen unsterblich geworden: «Das Eis-Schloss» und «Die Vögel». In «Die Vögel» erzählt er von dem Außenseiter Mattis, der sich in eine kindliche innere Welt zurückgezogen hat und von den anderen Dorfbewohnern als zurückgeblieben verlacht wird. Seinen Lebensunterhalt versucht er mit kleinen Hilfsarbeiten auf dem Feld und im Wald zu bestreiten. Mattis lebt in einer Hütte am See mit seiner Schwester Hege, die den Haushalt führt und ihn versorgt, und er fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt – und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn.
In sparsamer, eindringlicher Sprache und in unvergesslichen Bildern beschreibt Tarjei Vesaas das Innenleben des Sonderlings Mattis und seinen Blick auf die Welt, und dabei auch sein Unvermögen, sich auszudrücken, sich mit anderen Menschen zu verständigen. Das Ungesagte zwischen den Zeilen, das im Grunde Unsagbare fügt Vesaas in einzigartiger, unverwechselbarer Weise ins feine Netz der Erzählung und erzeugt damit poetische Spannung und ein unbedingtes Mitgefühl für Mattis. Hinrich Schmidt-Henkel versteht es auf fast magische Weise, die Zwischentöne, Auslassungen und die Verknappung in der deutschen Übersetzung nachzubilden und uns die Geschichte mit ihrer ganz eigenen Melodie so nahezubringen, dass uns gar nichts übrig bleibt, als den Roman und seine Hauptfigur Mattis tief ins Herz zu schließen.

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Tarjei Vesaas

DIE VÖGEL

Aus dem Norwegischen von

Hinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort von

Judith Hermann

Die Vögel - изображение 1

INHALT

DIE VÖGEL I

I I

II

III

ANHANG

NACHWORT VON JUDITH HERMANN

BIOGRAFIEN

I

1

Mattis schaute, ob der Himmel jetzt am Abend klar und wolkenlos war. Ja, war er. Dann sagte er zu seiner Schwester Hege, um ihr eine Freude zu machen:

»Du bist ja ein Blitz, du!«, sagte er zu ihr.

Dass er dieses Wort in den Mund nahm, erschreckte ihn ein wenig, war aber ungefährlich, denn der Himmel war schön.

»Mit deinen Stricknadeln, meine ich«, fügte er hinzu.

Hege nickte unbeeindruckt und arbeitete weiter an der großen Jacke. Die Nadeln blitzten. Sie strickte gerade eine große achtblättrige Rose, die bald zwischen den Schultern eines Mannes sitzen würde.

»Ja, ich weiß«, sagte Hege wie nebenbei.

»Ich versteh nämlich auch was davon, Hege.«

Er tippte sich leicht mit dem Mittelfinger aufs Knie – wie immer beim Nachdenken. Auf und nieder, auf und nieder. Hege hatte es längst aufgegeben, ihm diese lästige Gewohnheit ausreden zu wollen.

Mattis sprach weiter:

»Aber du bist nicht nur bei so Achtblattrosen ein Blitz, das bist du bei allem, was du machst.«

Sie wehrte ab:

»Ja, ja, ja.«

Mattis schwieg zufrieden.

Das Wort Blitz in den Mund zu nehmen, war so verlockend für ihn. Wenn er das Wort gebrauchte, gab es in seinem Schädel eine Art merkwürdiger Querfurchen, fand er, und das zog ihn an. Vorm himmlischen Blitz hatte er eine heilige Angst – und bei schwülem oder schwer bewölktem Sommerwetter hätte er das Wort niemals verwendet. Heute Abend war es ungefährlich. Gewittert hatte es in diesem Frühjahr schon zwei Mal, mit gewaltigem Donner. Als es ganz schlimm zuging, hatte sich Mattis wie gewöhnlich auf dem Klo versteckt – ihm hatte mal jemand gesagt, in so ein Häuschen würde der Blitz nicht einschlagen. Ob das überall auf der Welt galt, wusste Mattis nicht, aber hier bei ihnen war es bis zum heutigen Tag immer so gewesen, zum Glück.

»Ein Blitz, ja«, murmelte er, irgendwie immer noch zu Hege gewandt, die sein prahlerisches Lob heute Abend schon leid war. Aber Mattis war noch nicht fertig:

»Ich meine, auch beim Denken«, sagte er.

Da blickte sie rasch auf, wie verängstigt, er hatte an etwas Gefährliches gerührt.

»Das genügt jetzt für heute«, sagte sie, steif und abweisend.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Nichts. Sei einfach still.«

Hege drückte alles weg, was herauswollte. So lange nagte schon das Unglück mit ihrem einfältigen Bruder an ihr, dass sie zusammenzuckte und einen Stich verspürte, wenn Mattis das Wort denken verwendete.

Mattis hatte etwas bemerkt, aber er rechnete es seinem ständigen schlechten Gewissen zu, weil er nicht arbeitete wie andere Leute – und er kam mit dem ewigen Spruch, den sie beide nur allzu gut kannten:

»Morgen musst du für mich was zu tun finden. So geht das nicht weiter.«

»Ja«, sagte sie in die Luft.

»Das ist doch nicht mitanzusehen. Ich habe nichts mehr dazuverdient seit …«

»Ja, du hast lange nichts Nützliches mehr gemacht.« Das entschlüpfte ihr unwillkürlich, etwas scharf. Es tat ihr sofort leid, aber zu spät, in dieser Frage ertrug Mattis nicht das Geringste, es sei denn, er sagte es selbst.

»So darfst du nicht mit mir reden.« Er schaute verdrossen.

Sie wurde rot und senkte den Kopf.

»Red ordentlich mit mir.«

»Ja, mache ich.«

Hege saß mit gesenktem Kopf da. Was sollte man auch tun, es war unmöglich. Bisweilen war sie kurz vorm Platzen – und dann gab es verletzende Worte.

2

Die beiden Geschwister saßen auf der Eingangstreppe des einfachen Häuschens, in dem sie allein wohnten. Es war ein guter, warmer Juliabend, und die alten Holzwände atmeten den Tag in der Sonne aus.

Sie hatten schon lange wortlos hier gesessen – bevor sie über Blitze und Dazuverdienen sprachen. Nur einfach nebeneinander gesessen. Mattis blickte mit unbewegter Miene auf die Baumwipfel. Dass er so herumsaß, war für seine Schwester auch ein gewohnter Anblick. Sie wusste, das musste sein, sonst hätte sie ihn wohl schon aufgefordert, es zu lassen.

Die beiden lebten hier mehr oder weniger abgeschieden – keine anderen Häuser waren zu sehen –, aber hinter dem Fichtenwald lagen eine Landstraße und verstreute Höfe. Beim Häuschen glitzerte ein großer See; ferne Ufer auf der anderen Seite. Der See reichte bis dicht an den Hügel, auf dem das Häuschen lag, dort unten hatten Mattis und Hege einen Steg und ein Boot. Das kleine gerodete Gelände ringsherum war eingezäunt und gehörte ihnen, aber am Zaun endete das Eigentum der Geschwister dann auch schon.

Mattis dachte: Sie weiß nicht, wohin ich schaue.

Es kitzelte ihn, ihr das zu erzählen.

Denn Mattis und Hege – die gibt es hier nämlich zwei Mal! Das weiß die Hege nicht.

Er erzählte es nicht.

Gleich hinter dem Zaun ragten die kahlen, weißen Kronen von zwei verdorrten Espen aus dem grünen Fichtenwald. Sie standen dicht beisammen, bei den Leuten hießen sie Mattis-und-Hege , aber nur, wenn die Leute untereinander sprachen. Mattis hatte das zufällig mitbekommen. Es war regelrecht zu einem einzigen Wort zusammengezogen: Mattis-und-Hege . Es wurde wohl schon lange gebraucht, bevor es Mattis zu Ohren kam.

Zwei verdorrte Espenwipfel nebeneinander, inmitten der grünen Fichtensprossen.

Er murrte innerlich empört, und er musste sie immerfort ansehen. Aber der Hege verrat ich das nicht, beschloss er jedes Mal, wenn sie so dasaßen wie jetzt. Sie wird sonst wütend, dass es um sie herum nur so saust – und die Wipfel heißen nun mal so, fertig.

Zugleich berührte es Mattis wie eine Art wortlose Rücksicht auf ihn, dass die beiden Bäume noch standen. An sich waren sie doch nur im Wege und störten dort mehr, aber der Besitzer kam nicht etwa und fällte sie vor ihren Augen, um sie in seinem Ofen zu verheizen. Das wäre auch irgendwie grausam gewesen, hier direkt vor den Menschen, die unter dem Namen litten, beinahe wie ein Mord. Darum tut der das nicht.

Den Mann will ich mal sehen, dachte Mattis. Aber er kommt nie her.

Mattis dachte weiter:

Wie das wohl im Kopf von dem aussieht, der sich diesen Namen für die beiden Bäume ausgedacht hat, so zum Spaß? Wer weiß. Man konnte nur an Sommerabenden auf der Eingangstreppe sitzen und darüber nachgrübeln. Aber ein Mann war es sicher. Mattis mochte sich nicht vorstellen, dass es eine Frau war, Frauen war er freundlich gesinnt. Außerdem ärgerte es ihn, dass Hege mit einem vertrockneten Baum verglichen wurde, das passte doch überhaupt nicht! Jeder konnte das sehen. Und so was über die Hege, die so schnell im Kopf und klug ist –

Was tut da nur so schlimm weh?

Das weißt du, antwortete etwas, eine irgendwie nichtssagende Antwort, aber die Wahrheit war es doch.

Man sollte nicht hinsehen, sich wegdrehen – stattdessen schaue ich hin, morgens als Erstes und abends als Letztes, bevor ich ins Bett gehe. So was von verkehrt.

»Mattis?«

Er schrak aus seinen Gedanken auf.

»Was siehst du?«, fragte sie.

Er kannte ihre Fragen nur zu gut. Er sollte nicht so dasitzen, er sollte dies nicht und er sollte das nicht, er sollte so sein wie andere Leute, nicht der »Dussel«, wie sie ihn nannten, der zum Gespött wurde, wenn er irgendwo auftauchte und bei der Arbeit mitmachen wollte oder so.

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