Vor vierzig Jahren habe ich mein Medizinstudium an der Universität von British Columbia abgeschlossen, ohne während der vier Studienjahre auch nur einmal etwas über psychische Traumata und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Entwicklung gehört zu haben. Einige Jahrzehnte später studierte meine Kollegin Dr. Henry Medizin an der Dalhousie University, an der anderen Küste von Kanada, anschließend in San Diego und Toronto. Auch sie hörte in all den Jahren ihres Studiums kein einziges Wort über Traumata. So schockierend es auch sein mag, es geht den meisten Medizinstudenten auch heute noch so, trotz aller Nachweise, die Traumata mit psychischen und physischen Krankheiten sowie Sucht in Verbindung bringen. Wie sollen Ärzte Menschen helfen, wenn sie keine Ausbildung erhalten, um die Ursachen der Probleme ihrer Patienten zu verstehen? Wie soll das System mit einer Epidemie umgehen, die es falsch einschätzt?
Wenn es um das Verständnis von Sucht geht, ist das Dilemma, die Ursachen nicht wahrhaben zu wollen, groß. Diese Abwehrhaltung verhindert, dass wir uns unserer eigenen Schmerzen und unserer dysfunktionalen Verhaltensweisen, mit denen wir uns vom Schmerz befreien wollen, bewusst werden. Dieses Versagen der Selbsterkenntnis bildet eine unsichtbare Grenze zwischen der Gesellschaft und den sozial ausgegrenzten Suchtkranken, was leider auch oft zwischen den Angehörigen der Gesundheitsberufe und ihren Patienten bzw. Klienten vorkommt.
Aus diesem Grund glaube ich, dass für manche Leser das Kapitel am schwierigsten ist, in dem ich meine eigene Kauf- und Arbeitssucht beschreibe – nur zwei der vielen Formen, wie sich eine Sucht äußern kann. Während viele dieses Kapitel erhellend finden, haben einige wenige negativ darauf reagiert. Jemand hat auf meiner Website gepostet: „Das Buch … fand ich gut, bis [der Autor] anfing, darüber zu reden, wie er Tausende von Dollar für Musik ausgegeben hat … Dadurch hat er bei mir völlig an Glaubwürdigkeit verloren.“ Oder wie ein Rezensent es ausdrückte: „Eine beiläufige Erwähnung dieser Schwächen hätte genügt. Maté ist als Arzt zu reflektierend, um seine Zwänge mit denen der Süchtigen, die er behandelt, auf eine Stufe zu stellen. Aber er siedelt sie mit einem gewissen Abstand auf demselben Kontinuum an und leistet meines Erachtens den Menschen, deren Wohlergehen wirklich durch ihre Süchte bedroht ist, damit einen Bärendienst.“
Auf den ersten Blick mag es für manche seltsam sein, „leichte“ Süchte mit tödlichem Drogenkonsum zu vergleichen, aber es ist in den letzten zehn Jahren allgemein anerkannt worden, dass Sucht viele Erscheinungsformen annehmen kann, von Substanzabhängigkeiten bis hin zu scheinbar „respektablen“ Zwängen, die allesamt der Gesundheit und dem Glück des Menschen schaden. Es gibt keine guten Süchte, keine sind bloße „Schwächen“. Alle Süchte verursachen Schaden. Jede Angewohnheit, die keinen Schaden verursacht, ist per Definition auch keine Sucht. Meine besondere Sucht nach dem zwanghaften Erwerb von klassischer Musik – der Erwerb der Musik, nicht die Liebe zur Musik an sich – hat mich dazu gebracht, Zeit und Geld zu verschwenden, meine Frau zu belügen, meine Kinder zu vernachlässigen und der Verantwortung gegenüber meinen Patienten entgegenzuwirken. Und was habe ich davon gehabt? Denselben dopamingetriebenen Kick aus Erregung, Nervenkitzel und Motivation, nach dem sich auch der Spieler, sex- oder kokainabhängige Süchtige sehnt. Diese vorübergehende Veränderung der neurochemischen Abläufe und des Geisteszustandes charakterisiert alle Arten von Sucht, von Drogen über Essen bis hin zu Selbstverletzungen: Das sind die Versuche, Körper und Geist zu regulieren, auf die Dr. van der Kolk verweist. (Es ist bezeichnend, dass meine crack-, meth- oder heroinabhängigen Patienten den Kopf schüttelten und lachten, als sie von meiner Hilflosigkeit angesichts meiner Kaufsucht hörten: „Hey Doc, ich verstehe, Sie sind genau wie wir anderen auch.“ Die Wahrheit ist, dass wir alle „genau wie wir anderen“ sind.)
Es gibt nur einen universellen Suchtprozess. Seine Erscheinungsformen sind vielfältig, von den sanfteren bis hin zu den lebensbedrohlichen, aber bei allen Süchten werden im Gehirn die gleichen Schaltkreise zur Schmerzlinderung, Belohnung und Motivation genutzt. Es entstehen die gleiche psychologische Dynamik der Scham und Verleugnung, die gleichen Verhaltensweisen der Ausreden und Unehrlichkeit. In allen Fällen fordert die Sucht den Preis des inneren Friedens, der Beschädigung von Beziehungen und des verminderten Selbstwertgefühls. Im Falle von Substanzabhängigen, sei es in der Knechtschaft von Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen, gefährdet die Sucht auch die körperliche Gesundheit. Nur mit einem breiteren Verständnis von Sucht und der Anerkennung ihrer Ursachen, die nicht in den Genen zu suchen sind oder eine Frage des freien Willens sind, sondern im menschlichen Leid liegen, entstehen Behandlungsansätze, die wirklich heilen könnten.
„Wir haben ein sehr fragmentiertes System der psychischen Gesundheit“, stellt Dr. Henry fest – eine Ansicht, die ich leider als nur allzu wahr teile. „[Wenn] die psychische Gesundheit die arme Schwester des Gesundheitssystems ist, dann ist Sucht wahrscheinlich die Cousine zweiten Grades, die in den Slums lebt.“
Voraussetzung für die Behandlung ist ein vielschichtiger Ansatz, der die Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Für diejenigen, die nicht zur Abstinenz bereit sind, kann das Konzept der Schadensminderung ein Weg sein, für andere vielleicht ein Zwölf-Schritte-Programm, aber ohne gesetzliche oder moralische Nötigung der Teilnehmer. Wie Michael Pond in seinem ausgezeichneten Buch Wasted: An Alcohol Therapist ’ s Fight for Recovery in a Flawed Treatment System hervorhebt: „Verachtung gegenüber Drogenkonsumenten durchdringt unsere Kultur.“ Pond erlebte diese Verachtung selbst bei den Anonymen Alkoholikern (AA) und glaubt, dass dies ein Grund dafür sei, warum das Zwölf-Schritte-Programm bei ihm nie funktioniert hat – trotz der Kameradschaft, der selbstlosen Unterstützung und der Herzlichkeit, die ihm Einzelne in der Organisation entgegenbrachten. Das Konzept der AA war nie als Behandlungsmethode gedacht, sondern als eine Lebensweise für Menschen, die Befreiung aus der Abhängigkeit suchen. Niemand sollte dazu oder zu einer anderen Art der Genesung gezwungen werden.
Wenn Zwölf-Schritte-Programme nicht für jeden hilfreich sind – bei all ihrem Wert helfen sie nur einer Minderheit – was dann? Es gibt keine „Allheilmittel“ für die Herausforderung der Sucht. Für viele Opiatabhängige sind Ersatzbehandlungen mit Drogen wie Suboxon lebensrettend. (In British Columbia wurde den Ärzten ein großer Spielraum für die Verschreibung von Suboxon eingeräumt, das nur ein sehr geringes Risiko birgt.) Für einige Abhängige können Medikamente von Nutzen sein, verschiedene Formen der Beratung für andere, aber kein einzelner Ansatz garantiert den Erfolg. Jeder Abhängige muss genau dort „abgeholt“ und betreut werden, wo er sich in dem Moment befindet.
Die meisten Ärzte werden, wenn überhaupt, nur in geringem Maß zum Thema Sucht ausgebildet, obwohl die Sucht folgenschwere Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, die Langlebigkeit, die Produktivität und das Familienleben hat. Die wenigen Ausgebildeten haben in Bezug auf die biologischen Zusammenhänge nur begrenzte Kenntnisse erworben. Würde man mich bitten, ein umfassendes System zur Behandlung der heutigen Substanzabhängigkeit zu entwerfen, und zwar auch für die verheerenderen „verhaltensbezogenen Süchte“ wie etwa Glücksspiel oder zwanghafte Sexualität, so würde es folgende Merkmale aufweisen:
• Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Pädagogen, Rechtsanwälte, Richter und alle Strafverfolgungsbeamten werden in Denkansätzen geschult, die Informationen über Traumata berücksichtigen.
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