Es zeigte sich, daß die vier Floßfahrer fündig geworden waren. Ungefähr fünfzig Yards südlich des Ankerplatzes der „San Jacinto“ hatten sie eine Stelle gefunden, die dem Ufer fast dreißig Yards näher war als die derzeitige Position der Galeone. Und eifrig loteten die Strolche des verrückten Kapitäns weiter und stießen von Minute zu Minute näher ans Ufer vor.
Ein Krächzen tönte plötzlich durch die sonst stille Bucht. Erstaunt hoben die Mannen von der verschwundenen „Empress of Sea II.“ den Kopf.
Was da flügelklatschend über sie hinwegsauste, war knallrot und pfeilförmig mit seinen ausgebreiteten Flügeln.
„Der elende Geier!“ flüsterte Old Donegal. „Schon wieder!“
Carberry sandte einen fragenden Blick zu den Zwillingen, ballte hinter dem Rücken des alten O’Flynn die Hände zu Fäusten und schüttelte mißbilligend und fassungslos den Kopf.
Die Söhne des Seewolfs konnten nur die Schultern hochziehen. Für alle anderen, die in die Sicherungsverwahrung des roten Vogels nicht eingeweiht gewesen waren, bestand ja ohnehin nur die Tatsache, daß der Papagei unverhofft aus einem selbstgewählten Versteck wieder aufgetaucht war.
Philip und Hasard konnten es sich indessen nur so erklären, daß Sir John den Öffnungsspalt des Kistendeckels genutzt haben mußte, um sich zu befreien. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, mit seinem starken Schnabel die Verzurrungen zu erreichen und sie durchzubeißen.
Was die Jungen sich bereits ausgemalt hatten, geschah tatsächlich.
Sir John flatterte im Direktkurs auf die „San Jacinto“ zu, stieg bis über die Höhe der Masttoppen auf und drehte zwei Ehrenrunden. Da ihm aber niemand Aufmerksamkeit schenkte, weder durch einen Pistolenschuß noch durch einen gebrüllten Fluch, nahm er sich das Floß als Ziel vor, zu dem alle an Bord der Galeone neugierig hinüberstarrten.
Die Kerle, die wie gebannt auf das Loten achteten, bemerkten den Papagei nicht sofort. Doch nach der ersten Runde, hoch über ihren Köpfen, ließ er sich mit schriller Stimme vernehmen.
„Culos de mono!“ Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als: „Affenärsche!“
Die Kerle auf dem Floß zuckten zusammen, und der Lotgast vergaß für den Moment sogar seine wichtige Tätigkeit. Entgeistert spähten sie hoch und sahen den kreisenden Papagei, der sie schon auf der Insel der „Viento Este“ so sehr verblüfft hatte.
Abermals schleuderte der Vogel ein „Affenärsche!“ in spanischer Sprache auf sie nieder.
„Jetzt reicht’s“, zischte einer der beiden Musketenschützen, ließ seine Langwaffe sinken und riß die Pistole aus dem Gurt.
„Hol es vom Himmel, das verdammte Flattervieh!“ rief der Mann am Wriggriemen.
Der Pistolenschuß krachte, und Sir John stieß ein schrilles Zetern aus, das nicht enden wollte. Nach einer Tirade von Schimpfwörtern, die allesamt aus dem Sprachschatz Ed Carberrys stammten, ergriff er mit Kurs auf den Strand die Flucht – gerade noch rechtzeitig, um auch der zweiten Pistolenkugel zu entgehen.
„Die schießen auf unseren Sir John!“ rief der alte O’Flynn grollend. „Das geht zu weit!“
Während der Papagei pfeilschnell in der Höhlenöffnung verschwand, erholte sich Stenmark als erster von der Überraschung über den plötzlichen Sinneswandel Old Donegals.
Die Kerle auf dem Floß hatten sich fast bis auf Musketenschußweite genähert.
Kurz entschlossen brachte der blonde Schwede seine Muskete in Anschlag und versuchte es mit einem Steilschuß. Krachend entlud sich die Langwaffe, und die Männer in der Felsendeckung hielten den Atem an.
Im nächsten Moment war vom Floß wildes Geschrei zu hören.
Old Donegal und seine Gefährten riskierten einen Blick. Der Lotgast preßte beide Hände auf den linken Oberschenkel und jammerte. Die anderen brüllten vor Schreck und vor panischer Angst, ebenfalls getroffen zu werden. Der Wrigger wendete in fliegender Hast und trieb das Floß zurück. Einer der beiden Musketenschützen war noch geistesgegenwärtig genug, eine Markierungsboje als Ansteuerungspunkt für die Galeone außenbords zu werfen.
„Alle Achtung“, sagte Old O’Flynn mit einem anerkennenden Seitenblick zu Stenmark, „auch wenn’s ein Zufallstreffer war.“
„Stimmt nicht“, widersprach der Schwede. „Ich habe gefeuert, um zu treffen. Und ich habe getroffen. Die Kugel streifte den Mann am linken Oberschenkel und schlug dann in ein Rundholz.“
„Und haargenau so hast du’s natürlich vorgehabt“, erwiderte Old Donegal grinsend.
„Klar doch“, behauptete Stenmark, ohne mit der Wimper zu zucken.
Das Floß war längsseits gegangen, und die drei Unverletzten hatten dem Mann mit der Beinschußwunde geholfen, über die Jakobsleiter aufzuentern.
Julio Acosta hatte seine erhöhte Kapitänsposition auf dem Achterdeck eingenommen und beobachtete das Geschehen auf der Kuhl. Er hatte ein Fäßchen Rotwein als Extraration an Deck schaffen lassen. Nach dem dürftigen Mittagsmahl, das aus gesottenen roten Bohnen mit Speck und Pökelfleisch bestand, sollte der Wein die Nerven der Kerle entspannen. Es war den gemeinsamen Zielen absolut nicht förderlich, wenn sie sich in gereizter Stimmung befanden.
Prado und Morro hatten es persönlich übernommen, die Beinwunde des Lotgasten zu versorgen. Natürlich, überlegte Acosta, mußten sich die beiden Schlitzohren wieder wichtig machen. Sie ließen einfach nicht locker damit, ihren Einfluß bei der Mannschaft auszubauen.
Acosta hatte verfügt, daß nach dem Backen und Banken zunächst eine einstündige Pause eingelegt wurde, bevor man begann, die „San Jacinto“ an die von der Floßbesatzung entdeckte Position zu verholen. Der Schwarzbärtige brauchte diese Ruhefrist auch für sich selbst, um einen klaren Kopf zu kriegen.
Es gab nun einmal gewisse Probleme, die er nicht einfach dadurch vom Tisch fegen konnte, daß er seine Vorgesetztenfunktion als unantastbar betrachtete. Damit gaukelte er sich nur selbst etwas vor. Das mußte er zugeben, wenn er ehrlich zu sich selbst war.
Seine Autorität war erheblich angeknackst, und der Grund lag in den Fehlern, die er begangen hatte. Es war unklug und unbeherrscht gewesen, voll einsatzfähige Männer einfach über die Klinge springen zu lassen.
Die Idee, mittels der kleinen Jolle am Strand einen Brückenkopf bilden zu lassen, war auch nicht gerade eine geistige Glanzleistung gewesen. Das Ergebnis hatte es bewiesen.
Alles in allem hatte er sich beträchtliche Sympathien verscherzt – ja, er mußte ehrlicherweise zugeben, daß er sich im Grunde alles selbst eingebrockt hatte, woran er jetzt zu kauen hatte.
Angefangen hatte es mit dem verrückten Papagei, der jetzt schon wieder aufgetaucht war – wie, um ihn zu verhöhnen. Das sprachgewandte Vieh mußte mit dem Teufel im Bunde stehen, da es sich nicht mit einer Pistolenkugel aus der Luft holen ließ.
Verdammt, ja, das war es! Der Gehörnte hatte den Papagei geschickt. Zwar war das ein höchst brauchbarer Fingerzeig auf den Verbleib des Goldes gewesen, aber es war auch von dem betreffenden Augenblick an alles schiefgelaufen.
Die Erklärung genügte Acosta, um sich damit vor sich selbst zu rechtfertigen. Der Höllenfürst hatte ihm das Hirn umnebelt, denn anderenfalls hätte er sich niemals dazu hinreißen lassen, eigene Leute ins Jenseits zu befördern. Jawohl, so und nicht anders mußte es gewesen sein.
Jetzt brauchte er nur eine geeignete Methode, um bei den Kerlen wieder volles Vertrauen und unumstößliche Autorität zu genießen.
Minutenlang beobachtete er die Kerle, wie sie auf der Kuhl ihren Rotwein schlürften und mit den üblichen unflätigen Lauten kundtaten, daß sie sich hemmungslos vollgefressen hatten.
Die Idee entsprang seinen suchenden Gedanken ohne Ankündigung, und er beglückwünschte sich insgeheim dafür. Noch vor wenigen Stunden wäre er nicht einmal im Traum auf eine solche Idee verfallen. Jetzt aber erschien sie ihm als die ideale Methode zur Beseitigung aller Schwierigkeiten.
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