Das felsige, buschbestandene Gelände bis zur Bucht hin bot genügend Deckung. Das bedeutete also: Die normalen Wachwechsel wurden mit der Jolle vollzogen, aber bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr begab sich der jeweilige Aufpasser zu Fuß auf den Weg und arbeitete sich auf dem „Kriechpfad“ bis zum Ufer der Bucht vor.
An Bord beider Schiffe herrschte wieder völlige Ruhe, nachdem Ferris mit seinem Trupp verschwunden und Mac als erster Wachtposten zu der Felsnase übergesetzt war. Ben Brighton überprüfte noch einmal den Plan für die Wachschichten, dann ließ er Luis Carrero an Deck holen, der wie üblich zumindest eine Stunde Luft schnappen durfte.
Carrero erschien, bewacht von Batuti und Bob Grey. Er sprach kein Wort und hielt den Kopf gesenkt. Vor dem Vordecksschott blieb er stehen, als warte er auf einen Befehl.
„Nun geh schon“, sagte Bob. „Vertritt dir ein bißchen die Füße.“
Carrero setzte sich etwas wankend in Bewegung. Rein äußerlich war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Aber wie sah es in seinem Inneren, in seiner unauslotbaren Seele aus? Das fragten sich die Männer, während sie ihn beobachteten. Aber sie waren sich darüber einig, daß es keinem von ihnen gelingen würde, jemals ganz zu erforschen, was in diesem Kerl vor sich ging.
Carrero verhielt sich wie ein folgsames Hündchen. Er zeigte sich nicht mehr renitent, stellte keine Fragen und vermied alles, was seine Bewacher in irgendeiner Weise reizen konnte. Die Abreibungen, die Carberry ihm verpaßt hatte, sowie das Wahnsinnsabenteuer mit dem Kranken hatten ihn wirklich mächtig mitgenommen. Er schlurfte über das Hauptdeck, und an seinem Gebaren war kaum etwas Gespieltes, Vorgetäuschtes.
„Der ist wirklich am Ende“, sagte Philip junior leise zu seinem Bruder und zu Araua, die mit ihm auf der Back standen.
„Laßt euch nichts vorgaukeln“, sagte Araua. „Er hat immer noch Kraft und Haß genug, um etwas Böses auszuhecken.“
Plymmie schien ihrer Meinung zu sein, sie duckte sich etwas und fletschte die Zähne. Leise begann sie zu knurren.
„Sei still“, sagte Hasard junior. „Wir wissen ja, daß du ihn nicht ausstehen kannst.“
Er mußte die Wolfshündin aber doch unter Deck bringen, denn sie wollte keine Ruhe geben. Kurz darauf enterten die Zwillinge in eine Jolle ab, die schon an der Bordwand der „Estrella“ bereitlag. Auch sie hatten ihr „Programm“ für diesen Vormittag: Fischen. In der Bucht gab es ihrer Überzeugung nach einiges zu holen – und sie sollten sich nicht täuschen, wie sich noch herausstellte.
Ben Brighton hatte Luis Carrero die Ketten abnehmen lassen. Dennoch blieb der Mann gefesselt, aber er hatte immerhin nicht mehr an der Last der Eisen zu schleppen. Er konnte sich ganz gut bewegen. Nur an Flucht brauchte er nicht zu denken. Wenn er über Bord sprang und ans Ufer zu schwimmen versuchte, ertrank er jämmerlich.
Das hielt er sich noch einmal vor Augen, während er sich müde über die Planken bewegte. Überhaupt: Sie paßten scharf auf und verfolgten jede seiner Bewegungen mit ihren Blicken. Der schwarze Riese schaute drein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, ihn packen und würgen zu können. Nein – Carrero brauchte sich auch weiterhin nicht den geringsten Illusionen hinzugeben.
Wo er sich befand, wußte Luis Carrero nicht. Hatte er diese Bucht jemals gesehen? Vorsichtig blickte er sich um. Nein, er konnte sich dessen nicht entsinnen. Er hatte keine Ahnung, wo sie ankerten. Fragen wollte er nicht, die Kerle teilten es ihm aus freien Stücken sowieso nicht mit.
Allerdings war da ein Punkt, der ihm jetzt wieder einfiel. Der schwarzhaarige Bastard Killigrew, dieser Teufel aller Teufel, hatte sich kürzlich bei ihm nach Tacna erkundigt. War das eine Möglichkeit? Konnte es sein, daß sie sich in einer Bucht unterhalb des Tals von Tacna befanden?
Carrero unterdrückte ein schwaches Grinsen. Möglich war es – sehr wahrscheinlich sogar. Somit war er schon einen Schritt weiter. Er ahnte wenigstens, wo er war und das war eine Menge wert.
Noch etwas fiel ihm jetzt auf. Der Bastard Killigrew zeigte sich nicht an Deck. Dabei war er sonst immer anwesend, wenn er, Carrero, seine Runde drehte. Was hatte das zu bedeuten?
Und wo war dieser Profos – das Ungeheuer? Er schien ebenfalls verschwunden zu sein. Seltsam war das. Waren sie überhaupt nicht mehr an Bord? Auch eine Jolle war verschwunden, ebenso einer der beiden Hakenmänner, den sie Matt Davies nannten.
Carrero schaute sich etwas aufmerksamer um. Da fehlten noch mehr Leute: Die beiden Hellblonden beispielsweise, die, wenn er sich nicht irrte, Gary und Sten gerufen wurden. Und dieser andere hellhaarige Kerl, der mit der Navigation zu tun hatte – Dan! Auch er war spurlos verschwunden.
Die Zwillinge hatten unterdessen mit der Jolle ungefähr das Zentrum der Bucht erreicht. Sie warfen ihre Angeln aus. Philip junior stieß seinen Bruder jedoch plötzlich mit dem Ellenbogen an. „He, sieh mal!“
„Was? Wo?“ stieß Hasard junior etwas verblüfft aus.
„Da drüben! Da wimmelt’s!“
„Von Fischen!“ rief Hasard junior. „Mann, das sieht ja aus, als ob das Wasser kocht!“
Keine zehn Yards von ihrem jetzigen Standort entfernt zappelte und zuckte es unmittelbar unter der Wasseroberfläche. Sie packten die Angeln weg, griffen wieder nach den Riemen und pullten auf die Stelle zu.
„Den Haken kannst du dir sparen“, sagte Philip schwer atmend. „Bruder, gib mal den Kescher her.“
Blacky hatte Mac Pellew auf der Felsnase abgelöst. Mac war wieder an Bord und verfolgte mit gemischten Gefühlen, wie die Zwillinge die Kescher ins Wasser tauchten und hüpfende, zappelnde Fische in die Jolle luden.
„Sind die auch eßbar?“ rief er ihnen zu.
„Klar!“ rief Philip junior zurück. „Die sehen aus wie Heringe!“
Carrero registrierte, daß die Männer von diesem Geschehen mehr und mehr abgelenkt wurden. Auch der schwarze Affe, wie er ihn insgeheim nannte, und der andere Aufpasser, dieser Grey, warfen jetzt immer öfter Blicke auf die fischenden Zwillinge.
Langsam schritt Carrero weiter und rückte der Nagelbank des Großmastes näher. Gab es denn nirgends eine Waffe, die er an sich reißen konnte? An Flucht war nicht zu denken, aber er konnte sich zumindest ein Hilfsmittel besorgen, wenn sie gerade nicht auf ihn achteten.
Der Zeitpunkt schien günstig zu sein. Von der Vorpiek aus hatte er gehört, daß mehrere Male in eine Jolle abgeentert worden war, die dann auch ablegte. Und richtig – an diesem Vormittag schienen viel weniger Leute als sonst an Bord zu sein. Das war sehr merkwürdig, für ihn aber möglicherweise von großem Vorteil. Es kam eigentlich nur darauf an, wie er das nutzte.
Er schritt auf und ab und tat so, als sei er mit sich selbst beschäftigt. Hin und wieder blickte er aus den Augenwinkeln zu den fischenden Jungen. Es war wirklich erstaunlich, was sie da an Bord der Jolle hievten. Ihr Tun fand mittlerweile das ungeteilte Interesse der kompletten Crew.
„Silbrige Fische“, sagte Nils Larsen mit Kennermiene. „Die sehen wirklich aus wie richtige Heringe.“
„Hast du schon mal falsche Heringe gesehen?“ fragte Mac Pellew knurrig.
„Ja, und zwar als Heringe verkleidete Dorsche“, erwiderte Nils schlagfertig. „Wie findest du das?“
„Ziemlich dusselig.“
„Fangt nicht an zu zanken!“ rief Bob Grey ihnen lachend zu. „Denkt lieber an die schöne Mittagsmahlzeit, die wir jetzt kriegen!“
„Denk mal an die Auswirkungen“, sagte Nils.
„An die was?“ fragte Batuti. „Spinnst du? Fisch ist gut für ’n Geist und für die Muskeln, das weiß doch jeder.“
Nils musterte ihn. „Nicht nur dafür. Kannst du dich nicht erinnern? Heringe bewirken so allerlei.“
„Ich krieg’ zuviel“, sagte Al Conroy stöhnend. „Geht das jetzt wieder mit der Manneskraft los? Hör bloß auf!“
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