„In Meilen natürlich nicht“, erwiderte Ben Brighton.
„Etwa siebzig, achtzig Meilen!“ schrie Hasard aus seinem Boot herüber. Er hatte jedes Wort verstanden. „Wenn wir weiterhin Glück mit dem Wind haben, sind wir morgen abend bereits in dem Delta-Arm!“
„Na, Gott sei Dank“, sagte der Kutscher. „Wenn wir den erst mal erreicht haben, geht alles viel leichter. Dann haben wir die Strömung, für den Fall, daß der Wind mal wieder einschläft.“
„Und wir brauchen kaum einen Finger zu krümmen“, meinte Dan O’Flynn. „Das wird so ein richtiger Spaziertörn, bei dem wir uns endlich mal wieder ausruhen können.“
„Sag das nicht zu früh“, warnte Gary Andrews.
„Hör auf“, sagte Stenmark. „Wir werden ja wohl nicht immer vom Pech verfolgt sein.“
„Bestimmt nicht“, brummte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia. „Morgen wird schöner Tag, Ägypten vergessen, Seewölfe hauen ab.“
„Holla!“ rief Big Old Shane. „Du hast dich wohl in den Entfernungen vertan, was? So schnell, wie du denkst, gelangen wir hier nicht heraus!“
„Aber Batuti riecht schon Salzluft“, sagte der schwarze Riese.
„Das ist der Sand, der dir in den Nasenlöchern sitzt!“ rief Blacky.
„Sand nicht salzig“, gab der schwarze Herkules empört zurück.
„Wieso?“ sagte Stenmark erstaunt. „Hast du ihn auch schon im Mund, daß du ihn schmecken kannst?“
„Blöder Hund“, sagte Batuti.
Die anderen lachten. Die Stimmung besserte sich, ab und zu wurden endlich wieder Witze gerissen. Die Boote schoben sich schneller voran, und mit jedem Yard rückte das ersehnte Ziel näher. Bald schien man die Salzluft des Mittelmeers wirklich zu spüren. Schließlich wehte der Wind ja aus Norden.
Hasard schöpfte neue Zuversicht, er hatte die berechtigte Hoffnung, daß nun doch noch alles gut wurde.
Zu dieser selben Zeit bahnte sich auf dem Mittelmeer, vor der Küste nur wenige Meilen vor Damiette an der östlichen Nilmündung, ein Drama an. Ein holländischer Handelsfahrer, der nach Beirut wollte, war in den Sturm geraten, der ihn unbarmherzig auf Legerwall trieb.
Die „Zeland“ – so hieß das Schiff – konnte sich trotz aller verzweifelten Bemühungen seiner Mannschaft nicht mehr freisegeln und geriet immer dichter an die Küste. Da nutzte es nichts, daß sich der Kapitän die Seele aus dem Leib brüllte, daß der Bootsmann selbst aufs Hauptdeck stürzte und mit anpackte, daß der Profos auf die Mannschaft einhieb: Die „Zeland“ war verloren, ihr Schicksal schon jetzt besiegelt.
Der Seegang zerschlug die Oberdecksluken. Die Schreie der entsetzten Männer gellten durch die Nacht. Brecher ergossen sich rauschend in die Frachträume und spülten alles und jeden fort, der ihnen im Wege war.
Das eingedrungene Wasser war mit den Pumpen beim besten Willen nicht mehr zu lenzen, die Männer mußten es aufgeben, gegen die Fluten anzukämpfen. Die furchtbaren Schreie nahmen zu und wurden im Brüllen der See hier und da erstickt – Männer wurden über Bord gerissen und ertranken, ohne daß ihre Kameraden etwas für ihre Rettung tun konnten.
Wie ein krankes Riesentier taumelte die „Zeland“ nun in den Fluten. Mit ihrem Wasserballast wurde sie immer schwerer und unhandlicher. Der Rudergänger konnte den Kolderstock kaum noch dirigieren, das Schiff drohte quer zu treiben. Immer stärker krängte es nach Backbord.
Schließlich geschah das Unvermeidliche: Die „Zeland“ ging auf Tiefe. Mit einem wüsten Ruck setzte ihr Kiel auf und wühlte sich in Sandbänken fest. Der Fockmast und der Besanmast knickten wie lächerliche Hölzchen weg, nur der Großmast überstand das Toben und Tosen und ragte noch über das kochende Wasser hinaus.
Für die Achterdecksleute und die Mannschaft schien es keine Chance mehr zu geben, alle waren zum Sterben verdammt.
Todesschreie wehten durch die Nacht und verklangen ungehört an der Küste. Niemand nahm die Tragödie der „Zeland“ zur Kenntnis, kein Schiff verließ Damiette, um den in höchster Not Schwebenden Beistand zu leisten.
In den Dörfern des Deltas nahe der Küste duckten sich die Fellachen und die Fischer tiefer unter ihre Decken und flehten zu Allah, daß der Sturm bald vorbei sein möge und keinen Schaden anrichte. Kein Mensch wagte sich in die Nacht hinaus, in der Scheitan höchstpersönlich zornschnaubend seine Peitsche zu schwingen schien.
Jack Finnegan, Decksmann der „Zeland“, wurde von den sprudelnden Fluten aus dem Vordeck gespült, stieß sich am Schott den Kopf und drohte die Besinnung zu verlieren. Heftig bewegte er sich in dem dunklen Naß, um sich mit der Auftriebskraft zur Oberfläche nehmen zu lassen. Fast schluckte er einen großen Schwall Wasser, so groß war in diesem Moment seine Angst vor dem Ertrinken.
O Lord, er hatte Angst, ja, wahrhaftig – vielleicht zum erstenmal in seinem bewegten, abenteuerlichen Leben saß ihm die Furcht wie ein Gespenst im Nacken. Er schämte sich dessen nicht, denn er wußte nur zu gut, wie ihm geschah, wenn sein verzweifeltes Unternehmen nicht gelang. Er dachte an seine Mutter und an seinen Vater, betete zum Himmel, verfluchte sich selbst und streckte seine Hände nach oben, um sich irgendwo festzuhalten oder ein drohendes Hindernis abzuwehren.
Er konnte gegen den Hauptmast geworfen werden oder sich in den Wanten verstricken, beides bedeutete den sicheren Tod. Er konnte sich den Schädel einstoßen oder durch ein Fall, eine Brasse oder eine Schot erwürgt werden, wenn er sich daran verfing. All dies schoß ihm durch den Kopf, während er durch die wogenden Fluten wirbelte.
Er hatte keine Macht mehr über sein Leben und war Zufall und Willkür überlassen.
Was war aus den anderen geworden, aus Paddy Rogers zum Beispiel, seinem Landsmann, mit dem er sich so gut verstanden hatte? Finnegan gab jede Hoffnung auf, noch mit irgend jemandem zusammenzutreffen. Es war aus, für sie alle aus, es wäre ein Wunder gewesen, wenn es ihm gelang, die eigene Haut zu retten.
Plötzlich brach das Wasser über ihm auf. Er schoß ein Stück über die Oberfläche hinaus und sank dann wieder zurück. Sein Keuchen und wildes Atemholen wurden um ein Haar wieder durch die Fluten unterbunden. Dann aber gelang es ihm, sich durch angestrengtes Wassertreten zu halten, und endlich füllten sich seine Lungen wieder, bevor es endgültig zu spät für ihn war.
Seine Hände krallten sich mit einemmal in etwas Widerspenstiges. Die Wanten, durchzuckte es ihn. Er klammerte sich mit aller Kraft daran fest, fluchte, japste, schloß Mund und Augen unter einem herandonnernden Brecher, wurde durchgeschüttelt und sah seinen Tod mit grinsendem Antlitz aus der Finsternis emporsteigen und mit einem scharfen Säbel nach sich schlagen – und doch ließ er die Wanten des Großmastes nicht los.
Das Wasser rauschte über die Kuhl der „Zeland“, der Spiegel senkte sich wieder. Finnegan vermochte in den Wanten hochzuklettern. Er biß die Zähne zusammen und klomm hoch, so schnell er konnte. So schaffte er es, der Urgewalt des nächsten Brechers zu entgehen. Orgelnd rollten die Wassermassen dicht unter seinen Beinen vorbei.
Er atmete auf und dankte in seinem Herzen Gott, daß er ihm geholfen hatte. Sein Grab hatte schon im Vordeck sein sollen, wo er, halb eingekeilt zwischen Schott und Niedergang, plötzlich nicht mehr weitergekonnt hatte, während alle anderen schreiend entwichen waren, aber dann hatte ihn das eindringende Wasser aus seiner Lage befreit.
Hölle und Teufel wollten ihn nicht, noch schien seine Stunde nicht geschlagen zu haben. O Jesus, dachte er, dies ist wirklich eine Gabe des Himmels, ich werde das nie vergessen.
Er war nie ein allzu gläubiger Mann gewesen, doch jetzt beschloß er, für alles geradezustehen, was er an Sünden verbrochen hatte. Kein Whisky mehr, dachte er, kein Brandy, kein Rum und auch keine Weiber – von heute an wirst du ein anständiger Mensch, Jack Finnegan, du Satansbraten. Keine Schlägereien mehr, kein Fluchen, das alles ist vorbei.
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