Hasard hatte sich einen raschen Überblick verschafft. Die Muskete lehnte er an einen der Karren, er brauchte sie nicht mehr. Statt dessen zog er seinen Radschloßdrehling und überprüfte mit einem raschen Blick die Ladung der sechs Läufe.
„Da drüben!“ rief er gegen den Höllenlärm an. „Das muß das Gefangenenlager sein.“
Johannes Lederer und die anderen spähten nach links in die angegebene Richtung.
Aus dem offenen Gatter eines eingezäunten Areals stürmte eine Gruppe von Offizieren, denen Mannschaften in wirrer Formation folgten. An der Spitze der Offiziere hastete ein fülliger Mensch, der an seinem Körpergewicht erheblich zu tragen hatte. Der Uniform nach mußte es sich um einen Capitán handeln, wie Hasard feststellte.
Im offenen Gatter tauchte eine weitere Gruppe von Soldaten auf. Sie waren im Begriff, das Gatter zu schließen.
„Los jetzt!“ rief der Seewolf und schnellte als erster hoch.
Johannes Lederer und die übrigen Männer der „Isabella“ folgten ihm. Im selben Augenblick erschienen auch Ed Carberry und Ferris Tucker auf der Bildfläche. Sie hatten ihren Höllenspektakel eingestellt und schwangen sich unbehelligt über die Palisaden. Die Geschützmannschaften auf den Batterietürmen waren vollauf damit beschäftigt, sinnlose Kugeln einem unsichtbaren Gegner nachzujagen.
Die Soldaten beim Gatter vergaßen ihre Aufgabe. Erschrocken wirbelten sie herum, als sie die Angreifer heranstürmen sahen. Zwei oder drei der Spanier versuchten noch, die Musketen in Anschlag zu bringen. Die anderen sahen ein, daß es dafür zu spät war.
Hasard und seine Männer drangen aus dem Schatten einer Wagenremise vor, die sich den aufgereihten Maultierkarren anschloß. Der Seewolf feuerte im Laufen. Wummernd entlud sich der Drehling in seiner Faust. Die großkalibrige Kugel fegte einen der Musketenschützen von den Füßen. Auch die beiden anderen schafften es nicht mehr, ihre Langwaffen abzufeuern. Fassungslos starrten die anderen, die mit ihren Säbeln in Abwehrposition gegangen waren, auf den schwarzhaarigen Riesen, der da wie ein Ungewitter gegen sie vordrang und eine Waffe hatte, mit der er mehrmals hintereinander feuern konnte, ohne nachladen zu müssen.
„Ar – we – nack!“ brüllte Edwin Carberry, der gemeinsam mit Ferris Tucker aufschloß, und die anderen stimmten mit ein.
„Ar – we – nack!“ schmetterte es dem kleinen Haufen der Spanier beim Gatter donnernd entgegen, und ehe die anderen bei den Baracken und auf dem Appellplatz auch nur erfassen konnten, was sich abspielte, war es bereits zu spät.
Mit der entfesselten Gewalt eines Wirbelsturms brachen die Seewölfe über die Spanier herein. Letztere hatten es weder geschafft, die Brükke hochzuziehen noch das Gatter zu schließen. Verzweifelt setzten sie sich zur Wehr.
Hasard drang als erster auf sie ein. Unbarmherzig zerschlug er die Gegenwehr eines der Männer, der sich ihm in den Weg zu stellen versuchte. Ein zweiter sank unter seinem herabsausenden Säbel zusammen, während er in der Linken den Drehling am Laufbündel gepackt hielt und Hiebe mit dem schweren Knauf der Waffe austeilte, um sich die Seite freizuhalten.
Der Seewolf erreichte die Bohlenbrücke. Hinter ihm klirrten die Säbelklingen. Doch nur noch für einen Moment.
Jäh stoppte Hasard seine Schritte, als er die beiden gefesselten Gestalten am jenseitigen Ende der Brücke erblickte. Ein Blick zur Seite ließ seinen Atem stocken. Tief unten, in schlammiger Brühe, wälzten sich die häßlichen Körper von Alligatoren und Kaimanen, und ihre schuppigen Schwänze peitschten das Wasser.
Die unüberschaubare Menge der Galeerensklaven verharrte in stummer Furcht – hilflos dem Geschehen ausgeliefert. Doch dabei sollte es nicht mehr lange bleiben, das schwor sich der Seewolf in diesem Moment voller Ingrimm.
Johannes Lederer stürmte plötzlich an ihm vorbei.
„Gerhard!“ rief er. „Sigmund! Um Himmels willen!“
Hasard drehte sich zu den anderen um.
„Bewacht das Gatter!“ Er deutete auf die reglosen Körper der Spanier. „Nehmt ihnen die Waffen ab! Wir brauchen jeden Säbel, jede Muskete und jede Pulverflasche!“
„Aye, aye, Sir!“ brüllte Edwin Carberry begeistert. „Wir ziehen den lausigen Dons die Haut in Streifen von ihren Affenärschen! Die kriegen jetzt Zunder unter dem Hintern, daß ihnen heißer wird als den Kakerlaken im Kombüsenfeuer!“
Eilends führten die Männer den Befehl des Seewolfs aus, während Ferris Tucker und Smoky seitlich am Gatter mit ihren Musketen in Stellung gingen, um für Feuerschutz zu sorgen.
Johannes Lederer kniete vor den beiden Gefesselten nieder und befreite sie mit seinem Dolch von den Stricken. Nur die Ketten konnte er ihnen nicht abnehmen, ebensowenig wie den anderen, die sich in fassungsloser Freude vor ihm gruppiert hatten.
„Meine Kameraden!“ rief Lederer dem Seewolf zu. „Gerhard von Echten und Sigmund Haberding! Und all die anderen!“
Der Geschützdonner war mittlerweile versiegt. Doch die Ruhe sollte sich als trügerisch erweisen.
Von Echten und Haberding rappelten sich auf.
„Das ist der Mann, dem wir alle unsere Rettung verdanken“, sagte Johannes Lederer mit einer Handbewegung. „Sir Hasard, den sie den Seewolf nennen. Philip Hasard Killigrew.“
Gerhard von Echten, der hochgewachsene Deutsche, trat auf Hasard zu und reichte ihm die Hand.
„Sie waren in letzter Minute zur Stelle“, sagte er in fließendem Englisch. „Ohne Ihr Eingreifen wären mein Freund und ich nicht mehr am Leben. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Sir Hasard.“ Mit knappen Worten schilderte von Echten, wie Capitán Gutiérrez nach dem plötzlichen Geschützdonner in einem Anflug von Panik auf die Hinrichtung verzichtet hatte.
„Später mehr darüber“, entgegnete der Seewolf knapp. „Ich denke, uns bleibt nicht viel Zeit. Wie weit sind Ihre Männer einsatzfähig, trotz der Ketten?“
Gerhard von Echten hob mit einem entschlossenen Lachen die Handgelenke, um die noch die Ketten gewikkelt waren.
„Sehen Sie sich das an! Das ist sogar eine recht wirksame Waffe!“
Johannes Lederer war zu den übrigen Deutschen gelaufen, begrüßte sie freudestrahlend, schüttelte Hände, klopfte auf Schultern. Für die Wiedersehensstimmung blieben jedoch nur wenige Minuten. Hasard mahnte zur Eile, ließ die Waffen verteilen, die sie den getöteten Spaniern abgenommen hatten.
Eine Gruppe von Indios lief auf den Seewolf zu, und einer von ihnen, stämmig gebaut, war der Wortführer. Auch er hatte sich die Ketten um die Gelenke gewickelt.
„Gracias, Señor“, sagte er in kehligem Spanisch, „wir danken Ihnen für unser Leben. Und wir werden ohne Angst um unser Leben an Ihrer Seite kämpfen.“
Hasard nickte und lächelte kaum merklich.
„Noch habt ihr nur eure Fäuste und eure Ketten!“ rief er. „Aber das soll sich schnell ändern. Als erstes werden wir die Waffenkammer stürmen.“
Für einen weiteren Wortwechsel blieb keine Zeit. Hasards Vermutung, daß sie sehr bald in Bedrängnis geraten würden, bestätigte sich. Vom Gatter her ertönten die Warnrufe der Männer von der „Isabella“. Inzwischen waren dort auch jene Deutschen in Stellung gegangen, die die Waffen der toten Spanier übernommen hatten.
Mit einem energischen Handzeichen beorderte der Seewolf die Indios zurück, die sich ebenfalls zur Verteidigung an die Brücke begeben wollten. Es wäre Selbstmord gewesen. Widerstrebend gehorchten sie.
Hasard folgte Johannes Lederer und den anderen, die über die Bohlenbrükke hasteten. Die Seewölfe hatten das Gatter geschlossen und Musketen und Pistolen in Anschlag gebracht. Im Schutz der Einzäunung waren die Deutschen noch damit beschäftigt, die Beutewaffen zu laden. Hasard schob sich zwischen seine Männer und lud die leergeschossenen Läufe seines Drehlings mit geschickten Handgriffen nach.
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