Sie brauchten nur noch auf das Zeichen zu warten.
Sigmund Haberding hob vorsichtig den Kopf, nur um Handbreite. Er hatte kein Auge mehr zugetan, seit das Unvorstellbare geschehen war. Zweifellos war es auch den übrigen Männern nicht anders ergangen. Hilflos ausharren und dem Unabwendbaren entgegensehen zu müssen, das war schlimmer als körperliche Qualen.
Da entstand eine Bewegung, die Haberding anfangs nur im Unterbewußtsein wahrgenommen hatte. Jetzt sah er es deutlich.
Einer der Indios richtete sich langsam auf. Dabei spähte er fortwährend zu den Posten. Sie waren im Laufe der Nacht zweimal abgelöst worden. Als sie jetzt nicht reagierten, erhob sich der Indio vollends. Er war ein älterer Mann und hatte einen sehnigen Körper mit Muskelsträngen, die von langer Fronarbeit verhärtet waren.
Gerhard von Echten hing kraftlos in den Fesseln, die ihn am Pfahl hielten. Irgendwann hatte er nicht mehr standhalten können. Auch für ihn gab es eine Grenze der Belastbarkeit, wie für jeden Mann.
Sigmund Haberding schmerzte der Anblick des Freundes, noch mehr jedoch die Gewißheit über das furchtbare Schicksal, das ihm drohte.
Der Indio hob etwas vom Erdboden auf. Er tat es behutsam. Ein Gefühl der Rührung ergriff Sigmund Haberding, als er erkannte, was es war. In einer Lederkappe, die er vermutlich tagsüber auf dem Kopf trug, hatte der dunkelhäutige Mann die Feuchtigkeit während der Nachtstunden aufgefangen. Vielleicht waren es nur ein oder zwei Schlucke Wasser, die sich gesammelt hatten. Trotzdem eine köstliche Erfrischung für einen Mann, der unmenschliche Qualen erdulden mußte.
Der Indio hielt die Lederkappe wie ein Kleinod in beiden Händen und schritt vorsichtig durch die Reihen der am Boden Liegenden.
Auf dem Bohlengang, der sich in den Nebelschwaden nur grau und undeutlich abzeichnete, patrouillierten ebenfalls Soldaten. Die Männer, die den am Pfahl Gefesselten bewachten, waren von Gutiérrez zusätzlich abgestellt worden.
Natürlich waren sie längst auf den Indio aufmerksam geworden. Haberding sah es an ihren Blicken, mit denen sie ihn verfolgten. Er glaubte, ein hämisches Grinsen bei einigen der Soldaten zu bemerken. Weshalb, in aller Welt, scheuchten sie ihn nicht auf seinen Platz zurück?
Der hagere Venezolaner erreichte jetzt den Pfahl, an dem Gerhard von Echten in seinen Fesseln hing. Von der Seite näherte er sich dem hochgewachsenen Deutschen, der nichts von alledem mitkriegte.
Die Soldaten begannen zu tuscheln und stießen sich mit den Ellenbogen an. Einer von ihnen nickte, dann waren sie wieder still und beobachteten den Indio mit scheinbar wohlwollendem Interesse.
Dieser trat bis dicht vor den Gefesselten und hob die Lederkappe an dessen Lippen.
„Bitte, Señor“, sagte der Indio halblaut, „bitte, trinken Sie, es wird Ihnen guttun.“
Bevor Gerhard von Echten vollends erwachte, schnellte jener Soldat los, der so entschlossen genickt hatte.
Es geschah so blitzartig, daß Sigmund Haberding das Gefühl hatte, sein Herzschlag setze aus.
Der Spanier packte den Indio an der Schulter und riß ihn herum. In hohem Bogen flog die Lederkappe durch die Luft. Die wenigen Wassertropfen blitzten auf und schienen versiegt zu sein, noch bevor sie den Boden erreichten. Der Indio stieß einen erschrockenen Laut aus, stolperte, blieb aber auf den Beinen. Abwehrend hob er die Hände und wich einen unsicheren Schritt zurück.
„Hijo de puta!“ brüllte der Spanier. „Hurensohn, verdammter! Wer hat dir das erlaubt?“
„Niemand, Señor. Ich wollte doch nur …“
„Nichts hast du zu wollen!“ überschrie ihn der Soldat. Jäh riß er den Säbel hoch.
Die Klinge verursachte einen flirrenden Reflex.
Der Indio stieß einen gellenden Schrei aus, doch nur einen Atemzug lang. Ein Gurgeln war das letzte, was er hervorbrachte.
Etwas zerriß in Sigmund Haberding. Etwas, das stärker war als Besonnenheit und Vernunft. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Die Ketten, noch um Hand- und Fußgelenke gewickelt, behinderten ihn nicht. Ein Laut des Entsetzens ging durch das Lager. Fast alle waren inzwischen wach geworden.
Unendlich langsam sank der Indio in sich zusammen. Sein Leben erlosch, bevor er den Boden erreichte. Das Gesicht des Spaniers war verzerrt. Er stieß die blutige Klinge in den Sand und bewegte sie hin und her, um sie zu reinigen.
Den Deutschen, der in blindem Zorn auf ihn losschnellte, bemerkte er einen Atemzug zu spät. Auch der Warnruf der übrigen Soldaten half nichts mehr.
„Sigmund!“ schrie Gerhard von Echten. „Bist du verrückt ge …“
Zu spät.
Mit einem wilden Satz überbrückte Haberding die letzten zwei Yards. Vergeblich versuchte der Spanier, den Säbel hochzureißen. Die Ketten an den Handgelenken des Deutschen trafen seinen Kopf und seine Schulter. Wie vom Blitz gefällt, stürzte er zu Boden.
Haberding stolperte, vom eigenen Schwung getrieben. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, waren die Soldaten zur Stelle, packten ihn, rissen ihn hoch, hieben mit den Fäusten auf ihn ein und traten ihn. Sein Widerstandswille wurde buchstäblich zerschlagen. Den Kopf schützend unter den Armen geborgen, krümmte er sich zusammen und rührte sich nicht mehr.
Einer der Spanier hob seinen Säbel.
„Laß ihn“, knurrte ein anderer und riß ihn zurück. „Den Alemán wird der Capitán für sich selbst aufheben wollen. Das ist was anderes als mit den lausigen Indios.“
Gerhard von Echten schloß die Augen. Ohnmächtige Wut und Hilflosigkeit loderten wie eine alles verzehrende Flamme in ihm. Das grausame Geschehen war wie ein körperlich spürbarer Schmerz in sein gerade erwachtes Bewußtsein gefahren. Es brachte ihn fast um den Verstand, daß nun auch sein Freund von dem gleichen Schicksal ereilt werden sollte wie er selbst. Denn daran gab es für Gerhard von Echten kaum noch einen Zweifel.
Als er die Augen wieder öffnete, hatten sie Sigmund Haberding gefesselt und am Boden liegenlassen. Auch um den toten Indio kümmerten sie sich nicht. Statt dessen hielten sie ihre Musketen schußbereit, denn offenbar rechneten sie mit einem weiteren Aufruhr im Lager. Auch die Posten auf dem erhöhten Bohlengang waren stehengeblieben und hatten ihre Waffen auf dem Geländer in Anschlag gebracht.
Doch weder die deutschen noch die indianischen Galeerensklaven wagten auch nur eine verstohlene Bewegung. Es gab nichts, was sie der brutalen Gewalt der Bezwinger hätten entgegensetzen können.
Die Stille hielt nicht lange an.
Wenige Minuten nach dem blutigen Zwischenfall wurde das Gatter der Lagereinzäunung geöffnet.
Capitán Gutiérrez eilte mit kurzen, energischen Schritten über die Bohlenbrücke. Ihm folgten die drei ranghöchsten Offiziere seines Stabes und eine Gruppe von sechs Soldaten, die lediglich mit Pistolen und Säbeln bewaffnet waren.
Gutiérrez stoppte seine Schritte jäh, als er die am Boden liegenden reglosen Körper sah. Der füllige Leib des Capitán erbebte.
„Zum Teufel!“ rief er schnaubend. „Was ist hier los?“
Der Dienstälteste des Bewachungskommandos eilte herbei und salutierte vor ihm.
„Ein kleiner Zwischenfall, Capitán“, meldete er schnarrend. „Der Indio und dieser Deutsche haben versucht, einen Aufruhr anzustiften. Dabei haben sie einen unserer Kameraden fast erschlagen.“ Er deutete auf den, der von Sigmund Haberdings Ketten getroffen worden war und jetzt benommen am Boden hockte und sich den Kopf hielt.
„Das ist eine Lüge!“ brüllte Gerhard von Echten. „Der Indio wollte …“
Was er noch hinausschreien wollte, blieb ihm im Hals stecken. Zwei Soldaten sprangen auf ihn zu. Drohend richteten sie die Säbelklingen auf seinen Brustkorb.
Capitán Gutiérrez scheuchte den Dienstältesten mit einer Handbewegung zur Seite und stapfte auf von Echten zu. Haberding, der neben dem Pfahl lag, streifte er nur mit einem Blick. Den toten Indio beachtete er nicht.
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