Die Schritte der Posten klangen langsam und träge wie eh und je. Gerhard von Echten drehte sich auf die Seite, um die Lage erfassen zu können. Seine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Das Gatter mit der hochgezogenen Brücke befand sich etwa zehn Schritte rechts von ihm. Er spähte zum Bohlenweg hinauf und suchte die Schattenrisse der Soldaten.
Da!
Der Wachhabende näherte sich von links. Seine Statur war unverwechselbar. Von Echten schätzte die Entfernung auf höchstens zwanzig Schritte. Er hielt den Atem an und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ein anderer Posten schlurfte von rechts heran, weiter entfernt noch.
Gerhard von Echten spannte die Muskeln. Die Ketten wogen schwer an seinen Hand- und Fußgelenken. Aber er hatte genügend Kraftreserven, um diesen Nachteil auszugleichen. Daran hatte die Schinderei auf der Galeere nur wenig geändert.
Er sah jetzt, daß er seine Position nicht zu ändern brauchte. Der Wachhabende würde diese Stelle eher erreicht haben als der Posten, der von der anderen Seite herannahte.
„Hola, Sargento!“ ertönte eine gedämpfte Stimme. „Ich denke, die Burschen sind langsam überfällig.“
Das mußte der Mann sein, der sich von rechts näherte, folgerte Gerhard von Echten.
„Halt den Mund, Kerl“, antwortete der Wachhabende knurrend. „Im Zweifelsfall wirst du dann abgelöst, wenn es dem Capitán paßt. Und wenn es ihm gefällt, kann das noch ein paar Stunden dauern.“
Ein unterdrückter Fluch war die Reaktion.
Von Echten spähte schräg nach oben. Der Schatten des Wachhabenden schob sich breit und wuchtig heran. Zehn Schritte trennten ihn noch von der Stelle, an der der Deutsche lauerte.
Behutsam richtete sich Gerhard von Echten auf. Die nervliche Anspannung fiel von ihm ab. Jetzt, da der entscheidende Moment bevorstand, kehrte jene eiskalte Ruhe ein, die ihm in Augenblicken größter Gefahr stets geholfen hatte.
Plötzlich ein Scharren. Stimmengemurmel folgte, dann das Knarren eines Riegels, der herausgezogen wurde.
Die Wachablösung. Es gab keinen Zweifel. Sie öffneten das Gatter. Jeden Moment mußten sie die Brücke hinunterlassen.
Gerhard von Echten wartete regungslos.
Der Schatten des Wachhabenden wurde riesengroß über ihm.
„Na endlich!“ brummte der Posten, der ebenfalls nicht mehr weit entfernt war. Das Gatter schwang jetzt weit auf, und die Silhouetten des ablösenden Kommandos wurden erkennbar.
Von Echten konzentrierte sich auf den Untersetzten.
Noch zwei Schritte, einen Schritt.
Jäh ließ der hochgewachsene Deutsche seine Muskeln explodieren. Er schnellte an dem Pfahl hoch und packte mit beiden Händen zu. Unter Aufbietung aller Kraft überwand er die letzte Distanz von zwei Fuß, die ihn von dem Wachgang trennte.
Seine linke Faust zuckte hoch, fand den Halt, den sie suchte.
Der Wachhabende stieß einen erschrockenen Laut aus. Für einen Augenblick hatte er sich von den Männern ablenken lassen, die am Gatter hantierten.
Gerhard von Echten lockerte seinen stahlharten Griff nicht für den Bruchteil einer Sekunde. Er zog mit einem Ruck, ließ sich fallen und setzte sein ganzes Körpergewicht ein.
Der untersetzte Sargento versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu halten. Die Füße wurden ihm buchstäblich unter dem Leib weggerissen. Bevor er am Geländer Halt finden konnte, schlug er hart auf, rutschte über die Bohlen und segelte abwärts.
Blitzschnell war der Deutsche über ihm und ließ die Rechte mit der zusammengerollten Kette niedersausen.
Der Schlag ließ dem Sargento keine Chance. Er sank in sich zusammen, ohne noch einen Schmerzenslaut von sich zu geben.
Eilige Schritte dröhnten auf dem Bohlenweg.
„He, was ist da los?“ brüllte jemand.
Beim Gatter senkte sich die hochgezogene Brücke quietschend nach unten.
„Bleibt, wo ihr seid!“ rief Gerhard von Echten mit schneidender Stimme den Posten zu. „Ich habe euren Wachhabenden! Eine falsche Bewegung von euch kostet ihn das Leben!“
Im Lager der Gefangenen schnellten Schatten hoch.
Für einen Moment waren die Schritte der Posten wie abgeschnitten.
Die Brücke fiel rumpelnd auf ihr Widerlager. Harte Stiefel polterten über die Planken. Im Lager der Galeerensklaven entstand zunehmend mehr Bewegung.
„Soldaten!“ brüllte Gerhard von Echten abermals. „Zurück! Oder der Sargento stirbt!“ Er hatte mittlerweile den Säbel des Bewußtlosen aus der Scheide gerissen, und die blanke Klinge funkelte im fahlen Licht des Mondes und der Sterne.
Auf der Brücke brachen endlich die Schritte ab.
Schatten huschten dem Bohlenweg entgegen.
„Werft eure Waffen weg, Spanier!“
Sigmund Haberdings Stimme.
Plötzlich geschah etwas, was Gerhard von Echten niemals in seinen Plan einbezogen hatte. Denn es beruhte auf grausamer Unmenschlichkeit, zu der er selbst nicht fähig war.
„Schießt sie zusammen, die Hunde!“ gellte eine Stimme von der Brücke her.
Die letzte Silbe war noch nicht verklungen, als ein Musketenschuß donnerte.
Ein vielstimmiger Entsetzensschrei ertönte aus den Reihen der Indios. Die Schatten, die den Bohlenweg noch nicht erreicht hatten, schienen gegen unsichtbare Mauern zu prallen.
Zwei weitere Schüsse krachten. Auch diesmal sirrten die Kugeln über die Gefangenen weg. Bedrohlich nahe jedoch.
„Treibt sie zurück!“ gellte wieder die Stimme von der Brücke. „Wenn euer Wachhabender krepiert, ist es seine eigene Schuld. Auf was wartet ihr noch!“
Gerhard von Echten erstarrte vor Entsetzen. Er konnte es nicht glauben. Sie waren bereit, ein Menschenleben ohne viel Federlesens zu opfern!
Bevor er sich von seiner Fassungslosigkeit erholen konnte, schwang sich eine Silhouette unmittelbar vor ihm herab. Mit dumpfem Aufprall landete der Soldat auf dem Erdboden. Auch die anderen folgten ihm und gingen mit blankgezogenen Säbeln auf die Gefangenen los. Ihre Musketen hatten sie wohlweislich zurückgelassen. Die Langwaffen taugten nicht für den möglichen Nahkampf im Gedränge.
Der Soldat, der Gerhard von Echten am nächsten war, stürmte mit erhobenem Säbel auf ihn zu.
Der hochgewachsene Deutsche wich einen Schritt beiseite und parierte reaktionsschnell. Er wußte, daß es keine Hoffnung mehr gab. Doch eher wollte er im offenen Kampf sterben, als daß er sich wie ein Tier niedermetzeln ließ.
Hell prallten die Klingen aufeinander. Der Spanier drängte mit der ganzen Wucht seines Körpergewichts nach. Gerhard von Echten stemmte sich wild entschlossen dagegen. Der keuchende Atem des Soldaten schlug ihm ins Gesicht.
Jäh wich von Echten zur Seite. Der Spanier stolperte und wurde vom eigenen Schwung mitgerissen. Doch er fing sich, wirbelte herum, jetzt in der Dunkelheit unter dem Bohlenweg. Von Echten sah den matten Reflex, als sein Gegner den Säbel wieder hochriß. Er ging zum Gegenangriff über, bevor der Spanier den ersten Schritt geschafft hatte.
Die Klingen klirrten in rasender Folge. Gerhard von Echten hatte keine Zeit, sich um das zu kümmern, was um ihn herum geschah. Mit Vehemenz fuhr er dem Spanier in die Parade, durchbrach dessen Kontern mit zwei, drei unbarmherzigen Hieben und gewann an Boden.
Der Spanier wich zurück. Verzweifelt versuchte er, das Blatt zu wenden. Doch dem wirbelnden Säbel des Deutschen vermochte er nichts mehr entgegenzusetzen.
Gerhard von Echten stieß plötzlich ins Leere. Ruckartig hielt er inne.
Die Dunkelheit hatte den Spanier verschluckt.
Unvermittelt gab es einen klatschenden Aufprall. Von Echten erstarrte. Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken herauf.
Der Graben!
Die Geräusche, die folgten, gingen ihm durch Mark und Bein. Mächtige Kieferknochen schlugen schmetternd aufeinander. Die Schwänze der Riesenechsen peitschten das schlammige Wasser. Der gellende Todesschrei des Spaniers brach nach wenigen Augenblicken ab. Und immer noch brodelte die Hölle der Alligatoren und Kaimane in der schwarzen Tiefe des Grabens.
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