Es ist die Müdigkeit, die dir so etwas vorgaukelt, sagte er sich im stillen.
„Senor“, sagte de la Torre, der zur Tür gegangen war, sich jetzt aber noch einmal umwandte. „Senor, gestatten Sie mir noch ein Wort. Sie sollten sich zur Ruhe legen. Sie haben seit drei Tagen kein Auge mehr zugetan – oder seit vier Tagen?“
„Es sind mindestens vier Tage, Capitán“, sagte der Bootsmann, „Ich melde mich freiwillig zur Mittelwache mit dem Ersten, Senor.“
Plötzlich lächelte der Kapitän schwach. Am Horizont der Finsternis und Verdammnis erschien wieder ein schwacher Hoffnungsschimmer. Seine Männer – sie hielten doch noch voll zu ihm.
„Ich danke Ihnen, Senores“, erwiderte er. „Und ich glaube, ich werde Ihr Angebot annehmen. Santa Madre de Dios, vielleicht haben wir nach dieser entsetzlichen Pechsträhne ja doch endlich Glück. Vielleicht finden wir Schutz und Hilfe. Vielleicht können wir den Iren, vor deren Küsten wir uns befinden, wenigstens Trinkwasser und Nahrungsmittel abkaufen.“
„Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, sagte Luis de Bobadilla, der Geschwader-Zahlmeister, wie aus der Pistole geschossen. „Geld haben wir ja mehr als genug an Bord, Capitän. Falls die Bevölkerung dieser wilden Gegend uns nicht gerade freundlich gesonnen ist, wird sie doch die Augen weit aufsperren und sich vor Hilfsbereitschaft überschlagen, wenn wir ihr auch nur eine Handvoll Piaster oder Reales unter die Nase halten. Die Iren sollen bettelarme Hunde sein, habe ich gehört.“
Luis de Bobadilla, ein untersetzter Mann mit vollem Gesicht und gerötetem Teint, hielt sich mit beiden Händen am Pult seines Kapitäns fest. Zuversichtlich lächelte er de Mendoza zu.
De Mendoza begegnete seinem Blick. Dieser Zahlmeister – sah er nicht viel gesünder aus als die anderen Offiziere? War die Tatsache, daß er bisher von seinem Leibesumfang kaum etwas eingebüßt hatte, wirklich einzig und allein darauf zurückzuführen, daß er über die enormen körperlichen Reserven verfügte, mit denen er sich immer brüstete?
„Ja“, sagte de Mendoza etwas gedankenverloren. „Wir können wirklich froh sein, daß wir wenigstens die Kriegskasse des Biskaya-Geschwaders gerettet haben.“
„Die ja wohlverwahrt in deiner Kammer steht, nicht wahr, Luis?“ meinte der Bootsmann, bevor er zu de la Torre hinüberschritt und mit diesem die Kapitänskammer verließ.
„Ja“, entgegnete de Bobadilla, während sie schon durch den schwankenden Achterdecksgang nach vorn gingen. „Ja, da steht sie sicher und wohlbehütet, und jeder kann es überprüfen, wenn er will.“
Die anderen Offiziere äußerten sich nicht dazu. Keiner konnte de Bobadilla besonders leiden, aber sie hatten andererseits auch keine Lust, mit ihm über die mehr oder weniger sorgfältige Verwahrung der Kriegskasse herumzudiskutieren. Sie waren alle zum Umfallen müde.
Kapitän Pedro de Mendoza entließ die Männer, aber Luis de Bobadilla hielt er doch noch zurück.
„Auf ein Wort, Zahlmeister“, sagte er.
In diesem Augenblick erschien ein Mann der Deckswache unter dem Türpfosten der Kammer und meldete: „Senor, der Feldscher schickt mich. Der Kamerad, der im Logis im Sterben liegt, hat als letzte Bitte ausgesprochen, noch einmal mit Ihnen sprechen zu dürfen.“
De Mendoza erhob sich, gab sich einen inneren Ruck und ging, die Schiffsbewegungen durch Beinarbeit ausgleichend, zur Tür.
„Verschieben wir unser Gespräch auf später“, sagte er zu de Bobadilla. „Das kann warten.“
„Ja, Senor. Gewiß, Senor“, entgegnete der Zahlmeister. Es kam ihm wirklich gelegen, daß der Sterbende im Vorschiff gerade in diesen Minuten seine letzten Atemzüge tat.
Platt vor dem Wind lief die „Gran Grin“ am frühen Morgen dieses Tages auf die Clew Bay zu, die sie vor Stunden bereits passiert hatte. Kapitän de Mendoza und die Reste seiner Mannschaft legten alle Hoffnung in diesen Kurswechsel. Sie schickten Gebete zum Himmel und flehten um Hilfe – und sie schienen erhört zu werden, denn sie fanden die ersehnte Leeküste schließlich wirklich.
Diese Küste war das Nordostufer von Clare Island. Clare Island lag der Clew Bay vorgelagert, doch das wußten die Männer der „Gran Grin“ nicht. Sie konnten nicht einmal ermitteln, daß sie hinter einer Insel Schutz gesucht hatten, die Dämmerung, Gischt und Regen behinderten die Sicht.
Achtzehn Meilen westlich von Westport lag die „Gran Grin“ nun. De la Torre und der Bootsmann hatten vom Achterdeck aus einen halbwegs sicheren und geschützten Platz gefunden, und hier machte der Viermaster mittels eines Notankers fest. Die Anker der Galeone waren vor Calais geblieben, als sie beim Angriff der Brander hatten gekappt werden müssen.
Trossen wurden zum Land hin ausgefahren und um Felsen und knorrige Bäume gelegt, ein in der Sturmsee gleichsam selbstmörderisches Unternehmen. De la Torre leitete das Manöver, und einmal wurde die Jolle, in der er auf der Heckducht saß und die Ruderpinne hielt, gegen einen Felsen geworfen, daß sie beinahe zerschellte. Mit der ramponierten, lecken Jolle konnten der erste Offizier und seine Rudermannschaft gerade noch zur „Gran Grin zurückpullen.
Nach diesem Manöver fielen die Männer vor Erschöpfung fast um. Sampedro, der Koch, hatte eine Suppe zubereitet, die wieder größtenteils aus Wasser bestand, die die Männer aber dennoch gierig in sich hineinschlürften.
Danach sanken sie in ihre Kojen oder legten sich einfach auf der Back zum Schlafen nieder. Vor dieser unbekannten Leeküste war die See zwar noch aufgewühlt, aber es bestand keine Gefahr mehr, durch Brecher über Bord gespült zu werden.
Kapitän de Mendoza hatte den Seemann bestatten lassen, der in seiner Todesstunde nach ihm verlangt hatte. Jetzt kehrte er in seine Kammer zurück, um sich selbst etwas auszuruhen. Er mußte diese Gelegenheit wahrnehmen, es war seine Pflicht, neue Kraft zu schöpfen, denn später, bei Erwachen des Tages, wurde er wieder an Oberdeck gebraucht und mußte seinen Männern ein Vorbild sein – kein todmüder, total verbiesterter Kapitän, der kaum noch seine Entscheidungen treffen konnte.
Er bereitete sich nicht die Mühe, sich zu entkleiden. In voller Montur sank er auf sein Lager. Vor dem Einschlafen dachte er an den Seemann, der jetzt auf dem Grund der See seine ewige Ruhe gefunden hatte. Wie er hatten auch viele andere Sterbende nach dem Kapitän verlangt – nach „ihrem“ Capitán, dem sie treu ergeben und verbunden gewesen waren. Kein materieller Reichtum konnte aufwiegen, was dieser Beweis ihrer absoluten Loyalität für de Mendoza bedeutet.
Aber de Bobadilla – wie stand es mit dessen Treue und Redlichkeit? Verwaltete er die Kriegskasse wirklich so, wie man es von ihm verlangen mußte? War es nicht seltsam genug, daß er über so große „körperliche Reserven“ verfügte, während alle anderen – einschließlich seines Kapitäns – jetzt fast bis auf die Knochen abgemagert waren?
Erst jetzt hatte de Mendoza Muße, darüber nachzusinnen. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, daß da etwas faul sein mußte.
Er beschloß, de Bobadilla auf den Zahn zu fühlen. Über diesem Gedanken schlummerte er ein.
Vega de la Torre und der Bootsmann, der von allen nur Vallone genannt wurde, hatten die Ankerwache übernommen.
Es wurde Tag, und zu tun gab es vorläufig nichts mehr – nur das eine: neue Kraft schöpfen.
Der Sturm hatte nur geringfügig nachgelassen und heulte mit fast ungebrochener Kraft weiter gegen die irische Westküste an. Gischt und Regenschwaden ließen keine Rundumsicht zu und kapselten die „Gran Grin“ von ihrer Umgebung ab.
Das umgekippte Heringsfaß lag vor der grauen Mauer der einzigen Kneipe von Westport. Wie diese Spelunke eigentlich richtig hieß, ließ sich nicht ermitteln, denn ein Schild gab es nicht mehr, nur noch die schmiedeeiserne Halterung davon, die den wüsten Sturmwinden offenbar über Jahrzehnte hinaus getrotzt hatte. Die Iren, die die Seewölfe und Jean Ribaults Männer in der Kneipe getroffen hatten, hatten verschiedene kernige Dialekt-Bezeichnungen für diesen Treffpunkt von Fischern, Beachcombern und Galgenstricken. Einige von diesen Wörtern schienen fast zärtlich gemeint zu sein, andere wieder waren unzweifelhaft die übelsten Schimpfwörter.
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