Endlich hatten sie eine „Einigung“ erlangt, und Hasard fragte: „Wann sollen wir denn mit dem Überfall auf spanische Schiffe beginnen?“
„So schnell wie möglich“, erwiderte Bingham hastig. „Die Clew Bay ist übrigens ein ideales Versteck, aus dem man wie der Teufel über einen Feind herfallen kann. Sie brauchen bloß auf die verdammten Philipps zu warten, Freunde, und dann rupfen Sie sie, einen nach dem anderen.“
„Es stürmt“, erwiderte der Seewolf. „Und meine Männer sind hungrig. In der Kneipe von Westport können sie saufen und mit den Ladys scherzen, aber da gibt es nichts zu essen.“
„Meine Männer sind auch hungrig. Wie die Bären“, hieb Jean sogleich in dieselbe Kerbe. „Seit zwei Tagen haben sie nichts Vernünftiges mehr zwischen die Zähne gekriegt.“
„Und wer Hunger hat, kann nicht kämpfen“, erklärte der Seewolf. „Also sollten wir den Proviant, das Wasser und die übrigen Kleinigkeiten, die Sie, werter Richard, uns versprochen haben, so schnell wie möglich übernehmen.“
„Wenn der Sturm nachläßt, oder?“ fragte Bingham.
„Am besten noch heute nacht“, sagte Hasard.
„Und wenn es weiterhin stürmt?“
„Auch dann“, entgegnete Hasard und entblößte seine Zähne. „Meine Leute und die Männer Jean Ribaults werden schon nicht von der Gangway fallen, wenn sie Fässer und Kisten zur ‚Isabella‘ und zur ‚Vengeur‘ hinübermannen. Je mehr Bier und Schnaps sie in Ihrer Spelunke die Kehlen hinunterstürzen, desto sturmfester wird ihr Gang.“
Er lachte. Jean lachte auch. Bingham fiel glucksend mit ein, dann erhob er sich und schüttelte den beiden spontan die Hände. Hasard und Jean wäre es lieber gewesen, voll in eine glitschige Nesselqualle zu packen als diesem Widerling die Hand zu drükken, aber sie taten auch das.
Was tat man nicht alles zum Schein!
„Ich werde alles Notwendige veranlassen“, sagte Sir Richard Bingham feierlich. „Und nun lassen Sie uns erst mal trinken – auf gute Geschäfte.“ Er kicherte, setzte sich wieder und zog aus dem untersten Fach seines Pultes eine leicht angestaubte Flasche hervor. Guter irischer Whiskey befand sich darin, zehn Jahre alt, ein edler Tropfen, den Bingham eigentlich für sich ganz persönlich aufgespart hatte.
Zum Teufel mit allem Geiz, dachte er, das hier ist schon ein Opfer wert.
Der Sturm hielt an. Immer noch kämpfte die „Gran Grin“ mit ihm. Ihr Kapitän und ihre Besatzung entdeckten in den ihnen unbekannten Gewässern keine schützende Bucht, in die sie verholen konnten. Dunkelheit und Regen hüllten das große Schiff ein, Brecher rollten donnernd gegen die Bordwände an und vergrößerten die Lecks.
1160 Tonnen groß war die „Gran Grin“, ein einst stolzes Schiff, wie es in dieser Größe und prachtvollen Bauweise nur selten vom Stapel gelassen wurde.
Sie war das Vize-Flaggschiff aus dem Biskaya-Geschwader des Juan Martinez de Recalde, eine gut armierte Viermast-Handelsgaleone. Aber von ihren vier Masten standen jetzt nur noch der vordere Besanmast und der Fockmast. Der achtere Besanmast war im Gefecht weggeschossen worden. Der vordere Besanmast war lateinergetakelt, an dem Fockmast bauschten und beutelten sich im zornigen Wind die beiden Rahsegel – Fock und Vormarssegel –, und zwischen diesen beiden Masten stand als Überrest des Großmastes ein unbrauchbarer, kläglicher Viertelstumpf. Die oberen drei Viertel waren samt Takelage und Segeln längst gekappt und schwammen nördlich der Orkney-Inseln.
Und die Armierung?
Es waren nur noch die Kanonen da, von denen sich die eine oder andere leicht aus ihren Brooktauen lösen konnte und dann als Geschoß quer über Deck rollen würde – eine Gefahr für die letzten halbwegs gesunden und kräftigen Männer, die sich an Oberdeck hielten und verbissen die Manöver durchführten, gegen den Kolderstock drückten, der im Toben des Wetters zu brechen drohte.
Munition für die Kanonen befand sich nicht mehr an Bord, so daß sich die „Gran Grin“ bei der möglichen Konfrontation mit einem Gegner nicht auf ein Gefecht einlassen konnte.
Die Besatzung – ursprünglich mit den Seesoldaten eintausendzweihundert Mann – war auf etwa zweihundert Mann zusammengeschrumpft. Und von diesen zweihundert war der Großteil völlig unterernährt und halbverdurstet, war im Kampf verwundet worden, litt an den gefürchteten Krankheiten Skorbut, Typhus, Diarrhöe.
Der Feldscher fürchtete, daß sich auch die Cholera einschleichen würde, aber hierüber hatte er bisher nur mit Kapitän Pedro de Mendoza gesprochen, um die Verzweiflung an Bord nicht noch zu vergrößern.
Pedro de Mendoza hatte die Offiziere in seiner Kapitänskammer im Achterkastell des Schiffes versammelt, hörte sich ihren kurzen Lagebericht an und fällte dann seine Entscheidung. Er hatte keine Karten von dem Seegebiet vor der Westküste Irlands, aber er brauchte sie dazu auch nicht.
De Mendoza war ein fähiger Kapitän, vierzig Jahre alt, zäh wie Leder, tapfer und vor allem kein Leuteschinder. Reiche seemännische Erfahrung hatte er in Westindien gesammelt, mit diesem und mit anderen Schiffen, die der Neuspanien-Flotte angehört und Gold und Silber aus der Neuen Welt nach Spanien transportiert hatten.
Illusionen hatte er in einer Situation wie dieser nicht mehr. Die „Gran Grin“ war leck, und die Lecks waren mit Bordmitteln nur notdürftig abgedichtet. Die Besatzung hatte bis zum Äußersten gekämpft, aber jetzt war sie am Ende. Sie brauchte Ruhe, sie brauchte Proviant, Wasser und ärztliche Versorgung.
De Mendoza saß auf einem geschnitzten Holzgestühl hinter seinem reich verzierten Kapitänspult. Die Männer hatten ihn umringt und blickten besorgt und erwartungsvoll auf ihn hinunter. Ein Offizier fehlte bei dieser Besprechung – es war der zweite Offizier, der vor zwei Tagen seinen schweren Verletzungen erlegen war.
Einer der vielen. Sie hatten den Zweiten mit seemännischen Ehren in dem ungastlichen, mörderischen Meer bestattet, wie sie danach immer wieder Tote den Fluten hatten übergeben müssen, so viele, daß sie sie am Ende nicht mehr gezählt hatten.
In dieser Nacht hatte es Miguel, einen jungen baskischen Decksmann, getroffen, und auch jetzt, so wußte de Mendoza, hockte der Feldscher unten im Vordeck am Lager eines Todkranken, der das Morgengrauen nicht mehr erleben würde.
Der Sturm packte und schüttelte das Schiff. Die Offiziere mußten sich am Pult und an Stützbalken festklammern, um nicht umgerissen zu werden.
De Mendoza blickte seinen ersten Offizier Vega de la Torre an und sagte: „Solange der Wind noch aus Nordwest wehte, konnten wir unseren Kurs halten. Aber dem Sturm aus Südwest sind wir einfach nicht gewachsen, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, weiter gegen ihn ankreuzen zu wollen. Daher meine Order: Wir gehen auf Kurs Nordost und laufen vor dem Sturm her. Ja, wir bewegen uns dorthin zurück, woher wir gekommen sind, aber in diesen sauren Apfel müssen wir beißen. Senores, wir versuchen, irgendwo unter einer Leeküste Schutz zu suchen.“
„Und wenn wir statt dessen auf ein Riff laufen?“ fragte de la Torre.
„Dieses Risiko gehen wir ständig ein, so oder so“, erwiderte der Kapitän. „Oder haben Sie noch einen genauen Begriff davon, in welcher Wasserregion wir uns befinden?“
„Nein, Senor Capitán.“
„Sehen Sie. Soll ich Ihre Frage noch präziser beantworten? Wenn wir auflaufen, dann ist es das Ende für uns alle. Aber das wußten Sie doch schon, oder?“
De la Torre zeigte klar und sagte: „Sie, Senor Capitán. Ich bitte um Verzeihung wegen meiner unangebrachten Bemerkung. Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.“
„In Ordnung“, entgegnete de Mendoza, und zum erstenmal seit langer Zeit spürte er Mutlosigkeit und Schwäche in sich aufsteigen. Wie lange konnte er auf das Durchhaltevermögen dieser Männer noch bauen? Verlangte er ihnen nicht Übermenschliches ab? War die Zeit nicht längst reif für eine Meuterei?
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