Die Schenkelknochen von zwei siebenjährigen Jungen hätten dieser wirbelnden Kraft kaum etwas von ihrer Wucht genommen.
Und wenn Matt Davies „mein Gott“ sagte, dann drückte er damit aus, was alle Seewölfe dachten.
Nur etwa drei Minuten später im Ablauf der Geschehnisse – und es hätte nicht nur die Zwillinge, sondern auch Edwin Carberry erwischt, der die beiden Jungs aus dem Vormars hatte holen wollen. Dem Profos hätte die Kettenkugel vermutlich das breite Kreuz gebrochen.
Keiner der Seewölfe verspürte Lust, diesen Gedanken zu Ende zu spinnen. Da konnte es einem kalt werden. Kalt? Es konnte einem kalt und warm werden. Nein, nicht warm – heiß, glühend heiß, kochend heiß.
Wer auch immer seine Hand über die „Isabella“ und ihre Männer samt der beiden kleinen Seewölfe hielt – er hatte aufgepaßt und nicht zugelassen, daß Furchtbares passierte. Aber einmal würde er vielleicht nicht aufpassen. Und wen würde es dann treffen? Und traf es jemanden, wäre es dann vermeidbar gewesen?
Auf dem Achterdeck fuhr Hasard zu Old Donegal Daniel O’Flynn herum — es waren kaum Sekunden vergangen, seit die Kettenkugel den Vormars zerschlagen hatte und dann auf die Decksplanken gefallen war.
„Mister O’Flynn“, sagte er eisig, und dieses Mal wählte er die förmliche Anrede, „wenn Sie sich überfordert fühlen, zwei Jungen unter Verschluß zu halten, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, Sie würden mir das mitteilen, bevor ein Unglück passiert. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Mister O’Flynn?“
„Das haben Sie, Mister Killigrew, Sir“, knurrte der Alte zurück. „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß mir das, was da eben passiert ist, als Großvater dieser beiden Lümmel genauso unter die Haut geht wie Ihnen als Vater. Und als diese beiden Lümmel ihre Mutter und Sie Ihre Frau verloren, Mister Killigrew, Sir, da verlor ich meine Tochter, wenn ich sehr höflich daran erinnern darf. Meinen Sie nur ja nicht, Ihr Schmerz über den Verlust sei tiefer als meiner gewesen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich fühle mich keineswegs überfordert. Und dieses Mal pfeife ich auf Ihre väterliche Order, Ihren Söhnen Schonzeit zu gewähren. Dieses Mal hat’s gescheppert. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Mister Killigrew, Sir?“
Die Seewölfe, die mitgehört hatten, waren starr. So scharf und förmlich hatte noch keiner von ihnen Old Donegal Daniel O’Flynn erlebt. Da bahnte sich wohl ein handfester Familienkrach an – zu einem Zeitpunkt, da die „Isabella“ bereits im Gefecht stand. Und die Sache war verdammt zweischneidig.
Fühlte sich Philip Hasard Killigrew als Vater angesprochen und zurechtgewiesen oder hatte Old O’ Flynn es gewagt, dem Kapitän der „Isabella“ Paroli zu bieten?
Das konnte nicht gutgehen. Aber sie irrten sich.
Philip Hasard Killigrew sagte mit zusammengepreßten Zähnen: „Sehr gut, Donegal! Auf was wartest du noch? Laß es scheppern, aber so, daß sie’s auch spüren. Absolution wird nicht mehr erteilt.“
„Aye, aye, Sir“, sagte der alte O’ Flynn und setzte sich mit seinen Krükken in Marsch.
„Donegal“, sagte Hasard hinter ihm. Der Alte stoppte und blickte über die Schulter zurück. „Ich würde es selbst tun“, fuhr Hasard fort, „aber ich kann jetzt nicht das Achterdeck verlassen.“
„Geht klar.“ Old O’Flynn nickte und humpelte zum Niedergang. Eine halbe Minute später verschwand er im Vordeck – bewaffnet mit einem Tauende.
„Hm“, murmelte Donegal Daniel O’Flynn Junior, genannt Dan, „bei mir pflegte er für diesen Zweck sein Holzbein einzusetzen, aber ich schätze, das Tauende ist wirksamer.“
Das waren die richtigen Worte zur rechten Zeit. Ein verstohlenes Grinsen glättete die verkniffenen Mienen der Seewölfe. Insgeheim hatten sie ihrem alten Donegal zugestimmt. Die Schonzeit für die beiden Lümmel war vorbei. Die Kerlchen waren aus der Achterdeckskammer ausgebüxt, um während eines Gefechts vom Vormars aus Abenteuer zu erleben, und das hätte ihr Leben kosten können – ihr Leben und das jenes Mannes, dem sie es eigentlich zu verdanken hatten, daß sie der Kettenkugel entgangen waren.
Und niemand mochte daran denken, was wäre, wenn es Edwin Carberry, den Profos der „Isabella“, nicht mehr gäbe. Nein, das durfte einfach nicht sein – eine „Isabella“ ohne den grimmigen, eisenharten, fluchenden Mann mit dem goldenen Herzen war nicht mehr vorstellbar. In diesen Minuten spürten sie es ganz intensiv, was Carberry für sie bedeutete.
Hasard war davon nicht ausgenommen – darum ja auch hatte er den alten Donegal so angeraunzt und im Grunde genommen tief verletzt.
Die wuchtige Riesengestalt Old Shanes schob sich neben Hasard. Nur für ihn hörbar sagte er: „Es ist alles in Ordnung und gut so, aber denke darüber nach, ob du deine beiden Söhne in eine Kammer einsperren darfst wie Jagdhunde in einen Zwinger, wenn zur Jagd geblasen wird.“
Hasard schaute den ehemaligen Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack überrascht an. „Wie meinst du das, Shane?“
„Ich meine, daß wir uns hüten sollten, ihren Ausflug in den Vormars als Ungehorsam anzulegen“, erwiderte Old Shane ernst. „Du kannst sie nicht an die Kette legen. Daß du es nicht kannst, beweist ihr Ausbrechen aus der Achterdeckskammer. Aber es beweist noch etwas anderes. Daß sie nämlich nicht bereit sind, Untätigkeit hinzunehmen, wenn alles, um sie herum in Aktion ist. Sie sind eben keine Duckmäuser. Sie müssen nur lernen, sich einzuordnen, aber das erreichst du bestimmt nicht, indem du sie einsperrst …“
Bills Ruf aus dem Hauptmars unterbrach ihn.
„Galeere steuert wieder auf das Flaggschiff zu!“
Stärker als zuvor wünschte sich Philip Hasard Killigrew mit der „Isabella“ weit weg von Cadiz, weit weg von diesem unsinnigen Draufloshämmern, weit weg von einem Admiral, der – wie auch sein Schiffsvolk – seine Aufmerksamkeit auf die Hafenstadt konzentrierte und nicht zu bemerken schien, was sich von Riemenschlag zu Riemenschlag näher auf seine Backbordseite zuschob.
Ja, der Mann, der diese Kriegsgaleere kommandierte, gab noch nicht auf. Nun war eine Galeere kein Segelschiff wie eine Galeone, bei der ein Verlust des Ruderblatts verheerende Folgen haben konnte. Zwar ließ sich der Kurs einer Galeone auch ohne Ruder mittels der Segel stabilisieren. Man konnte auch durch Trimmen der Segel Kursveränderungen vornehmen, das heißt, steuern. Aber das war weiter nichts als eine Notlösung, ganz zu schweigen von der Abdrift oder dem Unvermögen, einen schnellen Kurswechsel durchzuführen. In einem Gefecht wirkte sich das katastrophal aus.
Die Galeere hingegen blieb manövrierfähig – wenn auch nicht mehr ganz so wendig. Sie konnte mit den Riemen gesteuert werden. Sie konnte sogar auf der Stelle drehen, wenn auf der einen Bordseite an- und auf der anderen Bordseite gegengerudert wurde.
Alles das schoß Hasard durch den Kopf, während er gleichzeitig Kurs und Geschwindigkeit des Gegners schätzte und dann feststellte, daß die Galeere in der Peilung nicht auswanderte. Das bedeutete, daß die Galeere und die „Isabella“ auf Kollisionskurs lagen. Sie liefen in einem spitzen Winkel aufeinander zu.
Am Ende des gedachten Winkels aber lag das Flaggschiff Admiral Drakes, die „Elizabeth Bonaventura“.
Hasard begann zu schwitzen. Da bahnte sich eine Situation an, die ihm gar nicht gefiel. Die Gesamtsituation war sowieso verfahren genug. Fest stand, daß dieser wahnwitzige Galeerenkommandant stur wie ein andalusischer Kampfstier zum Rammstoß entschlossen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach beruhte das auf der Erkenntnis, daß man spanischerseits die „Elizabeth Bonaventura“ als das Flaggschiff des englischen Verbandes erkannt hatte.
Da lohnte sich dieser selbstmörderische Einsatz. Er würde sich noch mehr lohnen und dem Kampf geschehen einen völlig anderen Verlauf geben, wenn es gelang, nach dem Rammstoß zu entern und sich den englischen Admiral zu schnappen. Vielleicht wußten die Spanier sogar, daß der englische Admiral der verhaßte „El Draque“ war.
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