Wer hier einmal drinsaß, dessen Schulden vermehrten sich laufend durch die anfallenden Zinsen, und es wurde immer unwahrscheinlicher, daß er jemals wieder in die Freiheit zurückkehrte. Hier war das Essen schlecht, im Winter wurde kaum geheizt, und viele Leute waren hier schon elend gestorben.
Aus den Augenwinkeln blickte Hasard einmal kurz in den kaum einzusehenden Hof. Ausgemergelte, apathische Gestalten in zerfetzter Kleidung hockten teilnahmslos auf dem staubigen Boden und dämmerten dem nächsten für sie genauso hoffnungslosen Tag entgegen.
Ein unangenehmes Gefühl überlief den Seewolf wie immer, wenn er Menschen sah, denen man die Freiheit genommen hatte. Leute, die keine Aussicht hatten, das geschuldete Geld abzuarbeiten. Viele von ihnen waren schuldlos in Not geraten, und jetzt hockten sie hier und warteten, warteten. Die meisten waren so abgestumpft, daß sie gar nicht mehr bemerkten, was um sie herum vorging. Sie hockten nur einfach auf dem Boden, warteten und starrten in den Staub und Schmutz.
„Ein Scheißleben ist das“, sagte Dan, dem Hasards schneller Blick nicht entgangen war. „Ein Nachbar von uns hat zwei Jahre lang im Schuldturm von Falmouth gesessen, wegen einer lausigen Handvoll Copper, die er nicht bezahlen konnte. Daheim hungerten seine Kinder, und im Laufe der zwei Jahre wurden aus der Handvoll Copper mehrere Goldstücke. Die konnte er erst recht nicht bezahlen, und so blieb er noch ein halbes Jahr drin. Dann starb er, und als seine Frau davon erfuhr, hängte sie sich auf dem Dachboden auf. Damit war dann allen gedient, die Schulden wurden nie bezahlt, und es gab zwei Tote.“
„So ist das Gesetz“, meinte Hasard. „Wir werden nichts daran ändern. Hier sitzen aber auch Säufer, Schnapphähne und solche, die sich das Geld auf recht üble Weise erschlichen haben.“
Zwei junge Sperlinge flatterten aus der einen Linde und hockten sich in den Staub, um darin zu baden. Die Katze richtete sich auf, schlich auf Samtpfoten näher und belauerte die jungen Spatzen.
Dan O’Flynn zog sie ein bißchen am Schwanz, und damit war die Idylle beendet. Die Katze fauchte, die Sperlinge zogen ab.
„Vielleicht war das ihr Mittagessen“, sagte Hasard lächelnd.
„Na, wenn schon! Die soll sich um Mäuse kümmern, von dem Viehzeug gibt es noch viel mehr.“
Da war irgendwo ein Stimmchen, schwach und verwehend.
„Killigrew!“ tönte es jetzt etwas deutlicher.
„Ramsgate“, sagte Hasard spontan und stand auf. Er blickte zu dem schmiedeeisernen Gitter des Schuldgefängnisses hinüber und kniff die Augen zusammen, um gegen das Sonnenlicht besser sehen zu können. Auch Dan war aufgestanden und blinzelte zu dem Tor.
Ein Mann stand dort, dem das Sonnenlicht in den Rücken fiel. Er hatte beide Hände um das Gitter geklammert und blickte zu ihnen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, die Sonne zauberte lediglich einen grellen Reflex um seinen Schädel.
Nein, natürlich war es nicht Ramsgate, der da stand. Wie hätte er auch hier im Schuldgefängnis landen sollen?
„Hasard!“ rief die Stimme des Mageren jetzt. „Killigrew. Bist du nicht der Mann, den sie den Seewolf nennen?“
„Jetzt packt’s mich aber“, sagte Hasard. „Wer ist das denn?“
„Keine Ahnung“, sagte Dan kopfschüttelnd.
Hasard hatte nicht die geringste Vorstellung, wer ihn da rufen konnte. Hier, im Schuldgefängnis von Plymouth, da war er sich ganz sicher, kannte er ganz bestimmt keinen Menschen. Aber jetzt hatte ihn doch die Neugier gepackt, und er trat näher an das Gitter heran, das den dahinterliegenden Hof abtrennte.
Alle beide blickten dem fremden Mann ins Gesicht. Jetzt, als er den Kopf leicht zur Seite wandte, sahen sie ihn deutlich.
Da stand er in all seiner Traurigkeit, mit einem griesgrämigen Gesicht und einem Ausdruck in den Augen, als müsse er alle seine Freunde persönlich beerdigen. Wie ein Leichenbitter stand er da, und nun trat in seine Augen ein Ausdruck der Freude. Aber es war eine Freude, wie sie ein Sargträger empfinden und ausdrücken mochte, wenn er die schwere Kiste endlich absetzen konnte.
Mac Pellew!
Mac Pellew, Schiffskoch, Feldscher und Bader der „Marygold“ unter Sir Francis Drake, der Mann, der Zähne zog, Knochen flickte, Schweine abstach und doch auf seine Art ein Genie war.
Sein Gesicht war etwas faltiger geworden, aber es war immer noch so grämlich verzogen wie in alten Zeiten.
„Hasard“, sagte er leise und tief bewegt. Sein Blick huschte schnell über Dan, dann kehrte er zu Hasard zurück.
Der Seewolf war so verdutzt, daß es ihm sekundenlang glatt die Sprache verschlug. Er konnte es einfach nicht glauben, doch die Tatsachen bewiesen es nur allzu deutlich: Da stand Mac Pellew, daran biß keine Maus einen Faden ab, der gute alte Mac Pellew.
„Mann, Mac Pellew!“ sagte Hasard kopfschüttelnd.
Der alte Griesgram schniefte tief bewegt. Dann griff er durch das Gitter und schüttelte dem Seewolf zaghaft die Hand. Er war so gerührt, der gute Mac, daß er nur sehr mühsam Worte fand. Trotzdem ging sein Blick immer wieder zwischen den beiden Männern hin und her.
Dan O’Flynn hatte ihn ebenfalls längst erkannt, aber bei Mac dauerte das noch ein Weilchen.
„Das ist Dan O’Flynn“, sagte Hasard.
„Das Bürschchen?“ fragte Mac und fuhr zurück, als hätte ihn eine Natter gebissen. „Waaas – du bist der junge O’Flynn?“ fragte er gerührt. „Der mit der Kodderschnauze, der immer soviel fraß?“
„Genau der“, sagte Dan grinsend. „Nur etwas größer und älter geworden, Mac.“
Pellew schüttelte den Kopf, wandte sich halb zur Seite und begann wieder zu schniefen.
Und dann sagte der mit der „Kodderschnauze“: „Weißt du noch, wie ich dich immer beklaut habe, Mac“, und das rührte Mac noch mehr, und er schniefte noch lauter.
Sie ließen ihm Zeit, sich zu beruhigen, denn sie selbst brauchten auch eine ganze Weile, so unverhofft hatte das Wiedersehen nach vielen langen Jahren stattgefunden.
Dann, zum erstenmal, setzte sich ganz scheu und zaghaft ein Lächeln in dem Gesicht des Mannes fest, der sonst immer so aussah, als hätte er gerade an der Essigkruke genascht.
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelte er. „Wenn ich euch hier vor mir sehe, dann steigt bei mir schlagartig die ganze Erinnerung auf. Plymouth, die ‚Marygold‘, Drake, der Profos, Gordon Brown, den sie damals an die Rah gehängt haben. Was ist aus diesen Leuten und vor allem aus euch geworden?“
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte Hasard. „Man kann sie nicht mit ein paar Sätzen schildern. Aber die Kerle sind alle noch am Leben, bis auf Buck Buchanan, den hat es damals erwischt. Allen anderen geht es gut, sie sind hier in Plymouth.“
„Und Hasard ist von der Königin zum Ritter geschlagen worden“, erklärte Dan grinsend. „Das hat sich auch geändert.“
Mac Pellew wich einen Schritt zurück.
„Oh, das …, Verzeihung, Sir, das konnte ich nicht wissen, Sir.“
„Nun brech dir mal nichts ab“, sagte Hasard gemütlich, „das galt der ganzen Mannschaft und nicht nur mir allein.“
Ganz unbewußt blickte er dabei auf Mac Pellews Kleidung. Die Leinenhose, die er trug, hatte vor Jahren auch schon mal bessere Tage gesehen. Das Hemd war löchrig, verdreckt und so dünn, daß er wohl kaum noch wagen konnte, es auszuziehen, sonst wäre es vermutlich in tausend Fetzen zerfallen. Seinen Bartstoppeln nach hatte er sich seit mindestens zehn Tagen nicht mehr rasiert, aber das besorgte hier anscheinend ein Bader, der nur alle zwei Wochen erschien.
Alles in allem sah Mac abgerissen, verhärmt, etwas dürr und unendlich griesgrämig aus. Aber in seinen Augen leuchtete ein Feuer. Nein, es war keineswegs die Hoffnung, hier herauszukommen, es war lediglich die unverhoffte Freude, alte Bekannte wiederzusehen. Daß ihn hier jemand herausholte, damit rechnete Mac im ganzen Leben nicht.
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