"Das bringt doch nichts!"
"Das werden wir ja sehen! Glaubst du, ich will, dass er uns auf der Tasche liegt, bis er fünfunddreißig ist?"
"Es gibt Wichtigeres", behauptete Katja allen Ernstes und Thomas machte ein Gesicht, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
"Ach, ja?", schnaubte er. „Dann möchte mal wissen, was zum Beispiel!"
"Zum Beispiel, dass er ein glücklicher Mensch wird und etwas macht, was ihn befriedigt, wo er sich verwirklichen kann."
"Sag bloß, du verwirklichst dich in den Büroräumen der Postdirektion!", gab Thomas ironisch zurück.
Sie verzog das Gesicht.
"Leider nicht", erwiderte sie. "Um so mehr wünsche es allerdings meinem Sohn."
Thomas hatte keine Lust, sich weiter darüber zu unterhalten. Heute war einfach nicht in Form, um argumentativ mithalten zu können.
Aber Katja schien auch wenig Freude an der Sache zu haben.
Auf jeden Fall beendete sie das Ganze ziemlich abrupt, indem sie beiläufig sagte: "Es hat übrigens jemand für dich angerufen."
"Und wer?"
Auf einmal war Thomas Hansen wieder mit allen Sinnen präsent. Und das ungute Gefühl in der Magengegend war auch wieder da. Ganz deutlich sogar.
"Moment", meinte Katja und schien einen Augenblick nachzudenken. Dann fuhr sie fort: "Nee, den Namen hab ich vergessen. Der sprach auch nicht sehr deutlich. Er wollte zurückrufen."
Das Telefon klingelte.
Einmal, zweimal...
Katja sagte: "Das wird er sein."
Der Anrufer schien Geduld zu haben.
Er gab nicht auf und ließ es immer wieder klingeln, während Thomas Hansen wie erstarrt dasaß und sich nicht einen Millimeter rührte.
"Willst du gar nicht dran gehen?", fragte Katja.
"Doch, doch..." Er ging die paar Schritte bis zum Telefon sehr langsam. Dann nahm er ab. In seinem Hals steckte ein dicker Kloß, der ihn kaum sprechen ließ.
"Ja?", krächzte er.
Thomas hatte intuitiv gewusst, dass er es war.
Auf der anderen Seite atmete jemand einige Augenblicke lang und legte dann auf. Klick und Ende.
Katja fragte: "Wer war's?"
"Verwählt."
Sie kam aus der Küche und stutzte unwillkürlich, als ihren Mann da so stehen sah. Dann trat sie an ihn heran. "Mein Gott, du bist ja ganz bleich", stellte sie unwillkürlich fest. "Was ist denn los?"
"Nichts ist los!"
"Hast du Ärger gehabt?"
"Komm lass mich in Ruhe!"
"War ja nur 'ne schlichte Frage!"
"Ja, ja..."
"Thomas..."
Ihre Hände berührten seine Schultern, aber war wie ein steifes Brett.
"Ich fahr noch los, um eine Kiste Bier zu holen", meinte er schließlich.
Katja nickte langsam.
"Gut."
"Bis nachher dann..."
"Bis nachher!"
Thomas spielte nervös mit dem Autoschlüssel, als er ins Freie trat. Der Himmel hatte sich bewölkt. Es war und diesig geworden.
Gedankenverloren schlenderte er zum Wagen, schloss auf und stieg hinein. Mit einer nachlässigen Bewegung steckte er den Zündschlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und startete. Dann drehte er das Autoradio an.
Eine Staumeldung reihte sich an die andere. Der Feierabendverkehr setzte ein.
Thomas Hansen wollte gerade die Handbremse lösen und blickte auf, da knallte es plötzlich. Während die Frontscheibe zersplitterte, warf er sich zur Seite. Der Schaltknüppel fuhr ihm dabei schmerzhaft in die Rippen.
Dreimal wurde insgesamt geschossen.
Dann heulte der Motor eines davonbrausenden Motorrads auf.
Thomas schnellte hoch, sah vom Fahrer aber nur noch den Rücken.
"Verfluchter Hund!", murmelte Thomas leise vor sich hin.
Wenigstens hatte er keine der kleinen Glasscherben in die Augen bekommen.
Im nächsten Moment hörte er Schritte und die Stimme seiner Frau.
"Thomas!", rief Katjas helle, jetzt leicht hysterisch klingende Stimme.
Thomas öffnete die Wagentür und krabbelte hinaus.
"Ja?", ächzte er, als er wieder auf zwei Beinen stand.
"Thomas, was ist passiert? Die Schüsse..."
"Eine Fehlzündung, sonst nix", meinte Thomas in einem Tonfall, dem nicht anzumerken war, ob das eine ironische Bemerkung war, oder ob er es ernst gemeint hatte.
"Thomas, jetzt erzähl doch keinen Unfug! Ich war in der Küche, ich habe alles genau gesehen. Jemand hat auf dich geschossen und dann ist ein Motorradfahrer davongebraust! Sieh dir die Scheibe an! Und das da im Blech! Einschusslöcher."
"Katja...", murmelte Thomas schwach, während sie ihn an sich drückte, froh darüber, dass ihm nichts passiert war.
"Ich ruf die Polizei", meinte sie dann entschieden und blickte ihm dabei geradewegs in die Augen. "Vielleicht schnappen die den Kerl noch!"
Katja wollte gehen, aber Thomas gelang gelang es gerade noch, sie am Arm zu halten, ehe sie ihm davonschlüpfen konnte.
"Katja, so warte doch!"
Ihr Blick drücke Verständnislosigkeit aus. Sie runzelte verwundert die Stirn.
"Was ist denn?", fragte sie.
"Bleib hier!"
"Jede Minute ist kostbar!"
"Du kannst die Polizei nicht rufen!"
Pause.
Zwei volle Sekunden lang sagte keiner von ihnen auch nur ein Wort. Katja nicht, weil sie einfach zu baff war. Und Thomas nicht, weil ihm einfach nichts Gescheites einfallen wollte, so sehr er seine kleinen grauen Zellen auch anstrengte.
Natürlich war es Katja, die als erste die Fassung wiedererlangte.
"Sag mal, tickt's bei dir noch richtig? Jemand schießt auf dich und du willst die Polizei nicht rufen?“
"Ja, so ist es!"
Katja stemmte die Hände die geschwungenen Hüften.
"Das musst du mir schon erklären!", forderte sie.
Thomas zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Geste mit der Linken. Nachdem er dann tief Luft geholt hatte, meinte er nicht gerade überzeugend: "Die würden den ja doch nicht kriegen!"
"Ach! Aber wenn dir jemand beim Autofahren den Stinkefinger zeigt, dann bist immer gleich mit einer Anzeige da!"
Thomas schluckte, machte einen verlegenen und etwas ratlosen Eindruck. Zweimal setzte er zu einer Erwiderung an, dann sagte er schließlich: "Ich bring jetzt den Wagen in die Werkstatt!"
Eigentlich kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass er die Sache so nicht abtun konnte! Nicht bei Katja!
Sie fasste ihn am Oberarm.
"So kommst du mir nicht davon! Du erklärst mir das jetzt erst mal!"
Thomas zuckte die Achseln.
"Was soll's da zu erklären geben?"
"Kennst du den Kerl auf dem Motorrad?"
Er hob die Augenbrauen. Und seine Antwort kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, um noch überzeugend wirken zu können.
"Wie kommst du denn darauf?", meinte Thomas schwach.
Katja fuhr sich mit der rechten durch das dichte Haar.
"Na, irgendeinen Grund muss es doch haben, dass du ihn nicht anzeigen willst", war ihr messerscharfer Schluss.
"Ich hab doch die Nummer gar nicht!"
"Er hatte keine Nummer."
"Was?"
"Wie gesagt, ich stand am Küchenfenster und hab's genau gesehen."
Thomas atmete tief durch.
"Na, siehst du!"
"Quatsch!", meinte Katja entschieden und äffte ihren Mann dann nach: "Na siehst du!"
"Ich meine ja nur, dass die Polizei dann wohl kaum eine Chance hat, den Kerl zu fassen."
Katja runzelte die Stirn.
"Wieso DEN KERL?"
"Häh?"
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