Es war einmal eine Stadt, deren Bewohner schworen, sie sei die schönste der Welt. Hier wohnt der in einem Kinderheim aufgewachsene Musiker Aleksi Mensch. Das Schicksal hat ihm ein schweres Leben beschieden, aber es schenkte es ihm auch das treue Akkordeon »Raviata«, die Freunde Kotiko und Data, die heimlich in ihn verliebte Tamriko und ein vorgebliches Enkelkind: Sinka.
Verschrobene, warmherzige, unschlagbar liebenswerte und vom Leben gezeichnete Charaktere – es ist ihre bittersüße Geschichte, die dieser Roman erzählt. Sie alle nehmen ihr Schicksal an, und viele von ihnen werden scheitern, aber nicht, ohne sich zuvor ihren Anteil am Glück abzutrotzen und die hellen Momente des Lebens zu feiern. In den wundersamen, auf den ersten Blick unglaublichen Begebenheiten, die Kordsaia-Samadaschwili zu einem Märchen verwebt, sind Erdachtes und Wahres untrennbar miteinander verknüpft. In ihnen spiegeln sich die Geschichten der Stadt Tbilissi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das alltägliche Leben genauso wie die großen Tragödien, glückliche Fügungen und schwarze Tage, alles, was das Menschsein ausmacht.
Inhalt
Alekis Mensch ging in die Geschichte ein
Am Ufer des Schwarzen Meeres
Klein sind sie alle süß
Segel, Anker, Meer
Ich werd verrückt, ich dreh durch
Papa auf Russisch, Opapa auf Georgisch
Schwesterchen und Brüderchen
Bildung ist Licht
Du, mein Sonnenschein
Leb wohl, Stadt
Data
Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute!
Wo es viel Wasser gibt
Der Pfau
Du solltest dich an Nina Simone erinnern
Der Morgen wird schlimm
Mutter
Abo!
Weil du schön bist
Dämonen
Das Schiff
Ich widme diese Geschichte den Freundinnen meiner Mutter: der kleinen Ninulia, Dina Taubina, Berta Edelstein und Tante Mania, den schönen Mädchen, die im zwanzigsten Jahrhundert geblieben sind.
Es war einmal zu meiner Zeit eine Stadt, deren Einwohner, besonders diejenigen, welche jenseits des Flusses lebten, beim Leben ihrer Mutter, bei ihrem Gewissen und dem Vaterland schworen, dass unsere Stadt die schönste der Welt sei und hier Dinge passierten, von denen andere Städte nur träumen könnten.
Mag ja sein.
Ich habe auch andere Städte gesehen. Es waren alles schöne Städte, man kann nichts Gegenteiliges sagen, aber wissen ist besser als sehen: Mir ist diese, unsere, immer am liebsten gewesen. Schließlich bin ich ja auch eine von jenseits des Flusses, mal vom einen, mal vom anderen Ufer.
Am Flussufer erzählte man sich tausend Geschichten: dass das Wasser aus dem Felsen entspringe, man solle das Gesicht damit waschen und dann werde man zu einem Mädchen, vor dem die ganze Stadt niederknien würde. Wenn man den Flusssirenen lausche, könne man wunderbare Dinge von ihnen erfahren, die seien allerdings entweder gelogen oder wahr. Die Sonnenbräune in unserer Stadt sei nicht nur schön, sondern auch sehr gesund, steig aufs Dach, wärm dich auf und du wirst dir hundert Jahre lang weder eine Erkältung einfangen noch einen Mückenstich, heißt es. Und der Mann, den du einfach für einen Mann hältst, ja der, der ist in Wirklichkeit …
Und wir, die ganze Weiberschaft des Viertels, rieben unsere Gesichter wie die Verrückten an den moosbewachsenen Felsen, und es wirkte tatsächlich. Stellt euch vor, wenn es das Wasser der Schönheit nicht geben würde, wie wir dann aussähen?! Ich kenne so viele, die den Sirenen auf den Leim gegangen sind, dass mein Leben nicht ausreichen würde, um alle aufzuzählen, und dank der herrlichen Sonne meiner Stadt kriege ich keine Erkältung und mich sticht keine Mücke. Niemals.
In einem haben die Leute jenseits des Flusses sich aber geirrt: Ich habe diesen Mann nie einfach für einen Mann gehalten. Wenn ein Mann zwei Augen hat, beide himmelblau und trotzdem verschiedenfarbig, ist das schon eine gefährliche Sache. Noch dazu war er Dichter. Ach komm … der war nicht einfach ein Mann.
Der Mann erzählte ständig irgendwelche Geschichten, von der Stadt, von den Sagen der Sirenen und den Neuigkeiten, die die Krähen des Geteilten Gartens überbrachten. Ich habe sie mir angehört und weitererzählt. Jetzt will ich Folgendes tun: Ich erzähle euch das, was der Mann mir erzählt hat; wer es ihm erzählt hat, weiß ich allerdings nicht. Das hat er mir nicht gesagt.
Seine Geschichten, an die ich mich erinnere, erzählen vom vergangenen Jahrhundert, außerdem sind sie von einem »Jenseitigen« und Dichter überliefert, und vielleicht nicht ganz glaubwürdig.
Aleksi Mensch ging in die Geschichte ein
Aleksi Mensch ging in die Geschichte ein. Davon hat er nichts erfahren. Würde er auch nicht, denn über einem vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR am 25. Mai 1938 in Moskau ausgegebenen Befehl zur »Verhinderung von Verfehlungen in Kinderheimen im Umgang mit Kindern repressalienbetroffener Eltern« stand unmissverständlich geschrieben: »Streng geheim«.
In dem Befehl stand so einiges. Sehr schlimme Dinge. So schlimme Dinge, dass vor ihrem Hintergrund Aleksis Abenteuer nicht erwähnenswert wäre: Wie es hieß, »wurden im Kinderheim Borkow im Kreis Kalinin zwei achtjährige Mädchen von Heimbewohnern aus der älteren Gruppe vergewaltigt. Die Erzieher des Heimes ließen die Kinder einander zur Strafe verprügeln«. Aleksi war zwar weder ein Kind repressalienbetroffener Eltern, noch hatte er die Vergewaltigungen angezettelt – er hatte etwas anderes verbrochen: Er war ausgerissen, hatte am Flussufer Teer geschnüffelt –, doch Aleksi wurde trotzdem zum Schläger und Geschlagenen: Ein Erzieher wettete auf ihn. Und verlor. Aleksi, normalerweise ein ordentlicher Raufbold und, wenn es darauf ankam, unberechenbar wie eine Bestie, war erstarrt. Der Erzieher war jedoch überzeugt, er hätte das absichtlich getan, und verpasste ihm die Abreibung, die der Gegner hatte vermissen lassen. Nach diesem Geschehnis landete der Heimbewohner Mensch, blutüberströmt und zerschlagen, zunächst im Krankenzimmer des Kinderheims, wo man feststellte, er sei am Leben, und dann in der Bude des versoffenen, hinkenden und missgelaunten Straßenfegers, der feststellte, er habe ein zertrümmertes Bein, sei aber am Leben. Er werde zwar sein Leben lang hinken, genau wie er selbst, aber er sehe doch, dass er lebendig sei und auch er leben werde.
Jenen Mann vergaß Aleksi nie. Was andere Dinge betraf, gab er sich Mühe und es gelang ihm tatsächlich, alles zu vergessen, nicht aber den Straßenfeger – niemals. Der wortkarge, gebrochene Mann mit gebrochenem Körper zog das Akkordeon hervor und sang schlecht:
В тридцать третем году
всю поели лебеду.
Руки, ноги опухали,
умирали на ходу …
Im Jahre dreiunddreißig
haben wir den giftigen Gänsefuß aufgegessen
Arme, Beine schwollen uns an
wir starben beim Laufen …
Der Straßenfeger brachte Aleksi wieder auf die Beine und schenkte ihm ein Akkordeon.
Wenn man Verkrüppeltsein als Glück bezeichnen kann, hatte Aleksi Glück gehabt. Als Krüppel wurde er nicht in den Krieg eingezogen, hatte aber Papiere und ein Akkordeon; jenes Heimkind Aleksi Mensch aus dem Kinderheim Borkow im Kreis Kaliningrad, das in Wirklichkeit weder Aleksi mit Vornamen noch Mensch mit Nachnamen hieß – aber er würde das nie erwähnen! – also, jener Aleksi Mensch spielte und sang, er sang für die Kämpfenden, die Verwundeten, die Sterbenden und die Überlebenden, er spielte und sang in Vorzeigekinderheimen, auf Feiern, Schulfesten, und er sang immer für junge Mädchen, die selbst nach zwölfstündiger Plackerei eher schlecht als recht, aber immerhin zurechtgemacht und immerhin junge Frauen, einen zwar hinkenden, aber lächelnden und, was die Hauptsache ist, männlichen Menschen anlachten, der das Akkordeon voller Leidenschaft spielte, und siehe da – der erste Akkord und Aleksi legte los:
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