Warum arm?, fragte Aleksi irritiert, und Data antwortete, Ach, lern mich nur kennen und dann weißt du, was ich meine. Die Arme, sagte Kotiko, zwei Kinder hat sie bekommen und dabei jedes Mal gebetet, lieber Gott, mach, dass meine Kinder nicht nach dem Vater geraten, gib ihnen zwei Beine. Hahaha! Ein bisschen dumm ist sie schon, ja, aber eine sehr gute Frau, du wirst schon sehen, zum Verlieben ist sie.
Sie sprachen so mit ihm, als wäre Sotschi wirklich Georgien und als wären sie abends zu Datas Schwiegermutter nach Natanebi eingeladen worden. Aleksi fand das super und war über sich selbst erstaunt, als er die Männer sogar zum Tanz einlud. Am Abend. Am Strand. Was sagt ihr dazu? Tja, Data, du kannst zwar nicht tanzen, aber warum nicht? Ich lade euch doch nicht zum Tanzen ein. Tanzen kann ich doch selber nicht. Ich spiele. Auf dem Akkordeon.
Schau mal einer an! Kotiko war auch Musiker gewesen, er hatte Violine gespielt, bevor ihm die Finger abgefroren waren. Nein, doch nicht im Krieg, bis Warschau war es für ihn ein Spaziergang gewesen, und er kam sogar kraftstrotzend wieder, hatte zwar ein bisschen Grips eingebüßt in diesem Warschau … Na ja, nun gut, nicht nur ein bisschen, aber immerhin hatte er da noch alle Finger gehabt. Kotiko hatte Glück, ja. Nur eins sollst du wissen, während ich in Finnland war, ist Kotiko in der Mandschurei gewesen, wo er sich den Partisanen anschloss. Es gab da einen mongolischen Jungen, auch so ein Partisan, klein und hübsch, ein mutiger Kämpfer dazu, und dieser Junge vertraute Kotiko an, er sei weder ein Mongole noch ein Junge, sondern ein usbekisches Mädchen. Wie kam es denn dazu, fragst du dich jetzt sicher. Hahaha! Der Feind hat meine Eltern umgebracht, ich wurde Waise, es ist keiner mehr da, der mich liebt, klein und bedauernswert wie ich bin, sagte das Mädchen. Und damit das usbekische Mädchen nicht verhungerte und um außerdem der Liebsten Heldentaten zu zeigen – natürlich hatte er sich verliebt –, schnitt sich Kotiko jeden Tag einen Finger ab und überschritt im Rücken des Feindes die Grenze, tauschte ihn bei den Menschenfresser-Interventionisten gegen Reis ein. Das stimmt natürlich nicht, als ob Kotiko jemals in der Mandschurei gewesen wäre, wir erzählen es nur so, dass er seine Frau kennengelernt hat, als er Partisan war. Nein, sie ist keine Usbekin, sondern aus Tschughureti, und eine Waise ist sie auch nicht, sogar noch heute hat sie eine Mutter und Tanten – das wünscht man nicht mal dem ärgsten Feind! Sie sieht nur aus wie eine Usbekin. Erinnerst du dich an das Bild »Ein usbekisches Mädchen geht zur Schule«? So eine ist das, außerdem genauso tüchtig und streng. Klar, freilich kennt sie die Geschichte, wir erzählen sie immer in ihrem Beisein, und jedes Mal, wenn sie sie hört, tobt sie vor Wut, hahaha …
Am Abend, auf dem Tanzplatz, kreuzten wirklich Kotiko und Data auf, in den gleichen weißen Hemden und den gleichen grauen Hosen, wie Kotiko für den ganzen Platz vernehmbar verkündete, gaben siebzehn Finger und drei Beine Aleksi die Ehre. Aleksi gefiel’s und er winkte den Männern zu, dann legte er los:
»Meine Damen und Herren! Mädchen und Jungs! Ich bin Aleksi Mensch. Dieses Akkordeon heißt Raviata. Heute spielen die Raviata und ich erstmals in Sotschi, von dem es heißt, hier gäbe es die dunkelsten Nächte.«
… Am Ufer des Schwarzen Meeres …
Data setzte sich auf die weiße Balustrade, lehnte die Krücke daneben, und schon nach wenigen Minuten hockte sich das erste Mädchen, dann ein zweites neben ihn, und schon nach wenigen Minuten war ein lebendiges Gespräch im Gange. Er erzählt ihnen von Finnland, dachte Aleksi und lachte in sich hinein. Kotiko war nicht mehr zu sehen, und auch darüber musste Aleksi lachen.
… Am Ufer des Schwarzen Meeres …
Es war eine heiße Nacht, sternenklar und glücklich. Der Tanzplatz war von Lichterketten beleuchtet, ein fahles Licht, aber dennoch schön, feierlich. Aleksi freute sich, worüber, darüber dachte er nicht nach, er fühlte sich pudelwohl. Zwei Wochen in der wunderbaren Stadt Sotschi, und wer weiß, vielleicht ergäbe sich wirklich die Chance, nach Georgien zu fahren. Warum auch nicht? Vielleicht würden er, Kotiko und Data Freunde und dann würden sie sich zusammen eine Geschichte ausdenken, eine dumme und lustige …
… Am Ufer des Schwarzen Meeres …
Seite an Seite standen Paare und applaudierten. Aleksi lächelte breit, nickte den Zuhörern und Tänzern zu. Und dann, bevor er einen neuen Akkord anspielte, kam Kotiko zu ihm.
»Schau doch mal rüber zu Data, aber so, dass es keiner merkt. Ja. Nicht die Ältere, mit der Data redet, die wie ein Samowar aussieht, nein, die Junge, im weißen Kleid. Ein liebes Mädchen. Sie schaut dauernd zu dir rüber. Na, du machst das schon.«
Zu einer anderen Zeit und zu jemand anderem hätte Aleksi auf jeden Fall gesagt, was er glaube, wer er sei und was er sich erlaube, aber er mochte Kotiko und mochte Sotschi und mochte diese Nacht. Deshalb nickte er schweigend und blickte, als Kotiko sich getrollt hatte, zu Data hinüber.
Aleksi erinnerte sich später oft daran und wunderte sich, was damals in ihn gefahren war. Was am Ufer des Schwarzen Meeres in ihn gefahren war … Der Gral der Liebe ist dir zerbrochen, lachten Kotiko und Data dann manchmal, und Aleksi antwortete stets demütig, vielleicht nicht der Gral, aber mein Herz schon. Sei es wie es sei, Aleksi Mensch sah in Sotschi, am südlichen Himmelszelt, auf der schneeweißen Balustrade, neben Data ein Mädchen sitzen. Oder war es ein Engel? Engel tragen doch weiße Kleider, stimmt’s? Also war es ein Engel.
»Dünn wie die siebte Saite einer Gitarre«, seufzte Kotiko. »Ach, Niniko …«
»Obersturmbannführer Prokowjewna«, seufzte Data, »herrje, die Prokowjewna …«
Die Prokowjewna war Ninikos Mutter, riesengroß, ein Berg. Selbstgefällig pflegte sie angeblich zu sagen (natürlich nie zu Männern, das ist klar), dass in ihrer Jugend ein zwölfteiliges Teeservice auf ihre Brust gepasst habe, samt Zuckerdose und Teekanne.
Die Prokowjewna war eine große, unglückliche Frau: Der Prokowjewna war alles passiert, was, so sagte sie selbst, einer kleinen Frau passieren kann. Außerdem litt sie in letzter Zeit unter Atemnot, die Beine wurden ihr schwer, die Augen ließen nach. Sie konnte einem leidtun, deswegen nahmen sich alle tunlichst vor ihrer garstigen Laune in Acht oder mieden sie möglichst. Infolgedessen wäre zu all den Leiden der Prokowjewna auch noch die Einsamkeit gekommen, wäre da nicht Niniko gewesen.
Niniko jedoch – ach, Niniko … solche Mädchen existieren eigentlich gar nicht. Sie erscheinen und verschwinden nur in Büchern, und sie sind nur für diejenigen auf der Welt, die glauben, dass sie die Erde nur deswegen drehen oder die Erde sie dreht, um sie mit großer Liebe zu überschütten. Mit einer Liebe, die in Wirklichkeit nicht existiert. Genauso wenig, wie Mädchen wie Niniko existieren.
»Aleksi.«
»Niniko.«
Die Prokowjewna flüsterte Kotiko zu – zumindest hielt sie es für Flüstern: »Hat der Mann keinen Nachnamen?«
»Aleksi Mensch.«
Aleksi neigte den Kopf.
»Hm.«
»Er ist ein Freund von uns.«
»Hm.«
Wir haben zusammen im Orchester gespielt. Im Symphonischen Orchester soll er Akkordeon gespielt haben, Kotiko? Soll das ein Scherz sein? Nein, selbstverständlich das 1. Klavierkonzert von Tschaikowski, da haben wir uns kennengelernt. Doch damals, wer brauchte da schon einen Pianisten, Sie können sich bestimmt noch erinnern, was für Zeiten das waren, und die Leute von damals gibt es immer noch …
Aleksi nickte den Frauen noch einmal zu und kehrte auf den Tanzplatz zurück, die Prokowjewna aber lehnte sich schwer auf Kotikos Arm. Wer ist dieser Mensch? Ein Armenier? Er sieht doch gar nicht wie einer aus? Ist das ein Künstlername? Natürlich, Sie verstehen doch … Ja ja, natürlich … Und wie lautet nun sein richtiger Nachname? Ja, das ist klar, er wird ihn nicht verraten … Ja, früher, in friedlichen Zeiten, als ein Pfund Butter noch eine halbe Kopeke gekostet hat …
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