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Erste (ärztliche) Hilfe bei Unfällen , 1965
Data sagte, wir erfüllen den Fünfjahresplan in drei Jahren, und tatsächlich beging Aleksi Mensch für seine Geliebte eine Heldentat: Es war kein Jahr seit Sotschi vergangen, da betraten drei Männer in der Stadt Tbilissi, am Flussufer, einen »italienischen Hof« in der Hausnummer eins des nach einem verdammten, als Revolutionär bezeichneten Banditen benannten Platzes in ehrenwerter Mission: das eiserne Herz der Prokowjewna zu erweichen und um Ninikos Hand anzuhalten.
Kotikos Brust schmückten unzählige Orden, die Brust von Data ein einziger, aber seiner Aussage nach einer, der Kotiko vollkommen die Sprache verschlagen würde. Auch Aleksi funkele, wie Kotiko meinte, wie ein poliertes Fünf-Kopeken-Stück und trat sehr elegant auf – er bemühte sich zumindest, zumal er von den Männern unzählige Ratschläge erteilt bekommen hatte und ihm die Frau, bei der er über dem Kukia-Friedhofsviertel in Tbilissi ein Zimmer gemietet hatte, seufzend den »Schlieps« gebunden hatte.
»Ihr habt keine Ahnung vom Schliepsknoten«, murmelte Frau Kukia, deren echten Namen die Geschichte nicht preisgab, von der aber überliefert ist, dass sie ein gewieftes, mehrfach verwitwetes und kinderloses Weibsbild war, dem das ganze Stadtviertel die Schuld am geheimnisumwobenen Tod ihrer ebenso namenlos vergessenen Ehemänner gab. »Ihr habt weder vom Schliepsknoten Ahnung noch vom Respekt gegenüber Frauen, von nichts habt ihr eine Ahnung, worüber soll ich mit euch reden!«
Kotiko hielt Rosen in der Hand, deren Stiele fast so lang waren wie er selbst, er meinte ziemlich flapsig: »Hier, für Niniko.« Data hingegen ragte eine Champagnerflasche für die Prokowjewna aus der Armbeuge, auf nachdrückliche Empfehlung von Kukia hin mit einer Schleife verschönert, und er kam sich offenkundig dämlich vor.
»Champagner?!«, hatte Data beunruhigt gemeint. »Die Frau säuft doch wie eine Verrückte!«
»Na gut, dann kauf ihr eben billigen ›Hereti‹-Wein oder so ’nen Sch… Wirst ja sehen, was passiert!« Zusätzlich zu ihren anderen tollen Eigenschaften war Kukia auch noch unflätig, bloß hatte sie, nachdem ihr von Data deswegen einmal heftig der Kopf zurechtgerückt worden war, Filter eingebaut, wie er es nannte. »Wenn du willst, kannst du später Schnäpse in sie reinkippen, aber erst mal Champagner und ’ne Pralinenschachtel. Wie soll ich euch das alles nur beibringen!?«
Tatsächlich hatte Kukia ihrem Mieter Aleksi wirklich einiges beigebracht: Sie lehrte ihn die Regeln des Viertels, gab ihm Einblick in den Nachbarschaftsklatsch und es war auch Frau Kukia, die Kotiko, Data und Aleksi den Beinamen »die Schönlinge« gab, und das von Herzen, so als ob es keinen Funken Bosheit darin gäbe, sehr liebevoll.
»Tja, zumindest mit Männern kenne ich mich aus«, sagte Kukia zu Aleksi, der, das konnte keiner abstreiten, besonders aufgehübscht war. »Alle, mit denen ich was hatte, haben mich geheiratet.«
Die drei Männer hatten sich gewehrt, merkten aber bald, dass Widerstand zwecklos war, und fügten sich ihrer Schönheitskur: Wegen so einer Kleinigkeit die Beziehung zu Frau Kukia kaputtzumachen, das war es wirklich nicht wert. Die Hauptsache war, dass Aleksi Kukia sein Georgisch zu verdanken hatte, genauer gesagt das, was sie selbst für Georgisch hielt: einen uralten, kukianischen Dialekt, die »Totenfressersprache«, reich und anschaulich. Aleksi entpuppte sich als fleißiger Schüler und war nun perfekt gerüstet für die entscheidende Schlacht: Er hatte ein Lied geschrieben, auf Georgisch.
»Supergeil«, befand Data.
»Furchtbar«, jammerte Kotiko. »Kaum zu glauben, dass in der Sprache Rustawelis überhaupt so etwas Primitives möglich ist!«
Das letzte Urteil gebührte aber Kukia. Sie hörte gespannt zu, sagte dann, er solle den letzten Vers wiederholen – es waren insgesamt zwei – und erklärte schließlich nach einminütigem Schweigen:
»Es ist weder supergeil noch furchtbar. Ich sage doch: Ihr habt von nichts eine Ahnung. Das ist ein spitzenmäßiges Lied, und ich bin ja wohl nicht von gestern, oder? Also, wenn jemand mir so ein Lied singen würde, ich würde auf der Stelle die Beine breit … Also, ich wäre hin und weg.«
Die Männer lauschten beunruhigt.
»… und noch dazu einer wie mein Aleksi, groß, hübsch …«
»… und lahm«, sagte Kotiko amüsiert.
»Ja, lahm, wie Joffrey de Peyrac aus den ›Angélique‹-Filmen, der dazu noch toll singen kann. Also, ich würde auf der Stelle … Ob ich ihn nun heiraten würde oder nicht, hin und weg wäre ich, und das sogar mitsamt Klamotten!«
»Was soll’s«, sagte Kotiko. Er schaute Aleksi zweifelnd an. Aleksi war irritiert. Kotiko atmete erleichtert auf.
»Ich kenn das Mädchen doch«, plapperte Kukia weiter, »klar ist sie eine Gute, hübsch, aber wetten, dass außer einem Wiegenlied noch nie jemand was für sie gesungen hat?«
Tja, da irrte sich Kukia. Mit Männern kannte sie sich wirklich aus, aber von Frauen hatte sie offenbar keine Ahnung. Niniko hatte unzählige Verehrer, wie Sand am Meer. Bloß war sie einfach schlau und betrachtete sie im Gegensatz zu Kukia als nicht ebenbürtig, sie konnte sich penetrante Troubadoure entschieden vom Leibe halten! Eben unverkennbar eine Prokowjewna.
Data horchte auf.
»Hast du ihre Mutter gesehen?«
»Nein.«
»Und warum erzählst du dann Dinge, von denen du keine Ahnung hast? Von wegen Wiegenlied! Das Wiegenlied von General Budjonny, oder was?«
Und nun trat das herausgeputzte, mit Geschenken beladene und hoffnungsvolle Dreiergespann durch die Toreinfahrt der Nummer eins des Revolutionärsplatzes.
Ein sonniger Frühlingstag, ein blühender Kirschbaum, unterm Baum ein Wasserhahn, darauf eine Katze, die wie alle Katzen, die am Revolutionärsplatz wohnen, Malula heißt. In der Mitte des Hofes reinigt das Mädchen Tamriko einen Teppich, sie lässt mit dem Schlauch Wasser darüber laufen und streicht sorgfältig mit einer unsichtbaren Bürste darüber.
Als es die Schritte hörte, hob das Mädchen den Kopf, richtete sich schnell auf und fragte:
»Zu wem wollt ihr?«
Später würde das Mädchen Tamriko erzählen, es seien drei Männer gekommen, die seien dermaßen herausgeputzt gewesen, dass sie furchtbar durcheinander gewesen sei und den Wasserhahn gar nicht mehr zudrehen konnte. Das Mädchen Tamriko sagte auch, dass sie beim Anblick eines der Männer geblendet gewesen sei, weil – davon gibt es mittlerweile schon etliche Versionen, die allesamt völlig abwegig sind – der Mann aussah wie Thor Heyerdahl / sie dachte, es sei Gérard Philipe / sie oft von ihm geträumt habe und ihn leibhaftig gleich erkannt habe.
Während das Mädchen Tamriko Aleksi anstarrte, sah sich Kotiko im Hof um, reichte dann Tamriko – Kukia würde »Irrtum!« rufen – eine Rose und lächelte sie an.
»Wo wohnt hier Niniko?«
Tamriko rutschte beim Anblick der zwei Finger das Herz in die Hose, aber sie nahm die Blume dennoch entgegen.
Welcher von euch will zu Niniko?!, schrie Tamrikos Herz.
»Zu wem möchtet ihr?«
Auf den Balkon im zweiten Stock trat die Prokowjewna.
Mächtig wie der Elbrus!, dachte Data.
Schrecklich wie General Budjonny!, erschauerte Kotiko.
»Ach, ihr seid’s.« In der Stimme der Prokowjewna schwang kein Hauch von Wärme mit.
Und siehe da, getreu dem hundertmal bei Kukia durchgespielten Szenario, griff Aleksi Mensch zu seinem Akkordeon …
»Mir wurde ganz warm uns Herz«, würde Tamriko später sagen.
… rückte es auf der Schulter zurecht …
»Wie ein Westernheld war er!«
… und die Raviata fing an zu singen.
Und wie sie sang! Aleksi konnte schwören, sie habe nie etwas Vergleichbares hervorgebracht, und auch danach tat sie das nie mehr.
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