Nichtsdestoweniger bemüht sich Moskau seit den neunziger Jahren verstärkt darum, »cool« zu werden, nolens volens dem Westen nacheifernd, der diese Mode in Ermangelung einer neuen Mode bis zum Verschleiß trägt. Sogar den Milizionären hat man eine prowestliche Uniform angemustert. Doch das russische Neophytentum (beispielsweise Jugendzeitschriften, die mit »coolem« Titelblatt auftreten) ruft keinerlei Europabegeisterung hervor, da es sich lediglich um eine blasse Imitation handelt.
Indes … Puschkin! – Wir haben unser fundamentales »cool«. Und Lermontows Ein Held unserer Zeit ? – genau. Und Gogols Revisor ? Nabokovs Lolita ist vielleicht eines der coolsten Werke des 20. Jahrhunderts. Who’s cool in Russia? Ilja Kabakow, Brodskys beste Werke, irgendwo Sorokin, irgendwie Pelewin, ein Dutzend Fotografen, ein gefragtes jakutisches Model entsprechen dem »coolen« Genre, obwohl sie sich darauf natürlich nicht reduzieren lassen. Wir haben auch das klassische sowjetische »cool«, etwa den Film Entführung im Kaukasus . Schließlich Stalin, der »coole« Regisseur des krassesten politischen Welttheaters.
Die russische Frau gleich welcher Spielart ist atavistisch wie ein Steinklotz, was bisweilen zu ihrem Charme beiträgt. Ihr Körpergeruch verrät, dass sie schon lange kein Parfüm mehr benutzt hat. Die Haut verströmt eine moderige Ausdünstung. Eingefallene Augen.
Niedergeschlagenheit. Raue Stimme. Dort, in der Freiheit, ist es praktisch wie auf dem Mond. Dabei ist der Zaun ganze zwei Schritt entfernt. Wie weiland in Berlin oder auf dem Moskauer Internationalen Flughafen Scheremetjewo. Viele Weiber prahlen offen mit ihrer Intuition und glauben, Hexenkräfte zu besitzen, mit denen sie bisweilen Männer erschrecken. Andere dagegen mögen nuttige Eigenschaften an sich selbst. Die Nuttigkeit der russischen Frau, die Kehrseite ihrer Schamhaftigkeit, hat dieses grelle Buffet-Restaurant-Kolorit. Schenk ein, bring her, bedien mich. Nuttigkeit ist der Weißmeerkanal des russischen Lebens.
Respektierst du den anderen nicht, wird er dich nicht respektieren. So das Credo des Westens seit zweihundert Jahren. Mit dem Resultat dieser banalen Botschaft lässt es sich leben.
Die grundlegende Abscheulichkeit des russischen Lebens ist nicht der grobe Umgang miteinander, nicht einmal die Tatsache, dass der Mensch wie ein Haufen Scheiße behandelt wird, sondern das unausgesprochene Einverständnis, dieses unwürdige Leben fortzusetzen, und das Bemühen, dieses auch noch zu rechtfertigen. Alles zu rechtfertigen, in dieser Fähigkeit besteht die russische Wahrheit.
Die Summe von Beschreibungen macht eine Kultur aus. Die Russen haben eine große Menge von Beschreibungen. Das ist die russische Literatur. Unverständlich ist daher, warum die Russen, ungeachtet der großen Menge von Beschreibungen, keine Kultur hinbekommen haben. Ich weiß, dass daran weder Tamara Nikolajewna noch Ljudmila Walentinowna, Nikolai Pawlowitsch, Dmitri Wassiljewitsch noch eine Vielzahl anderer Leute irgendeine Schuld tragen. Und auch Michail Kusmitsch ist völlig frei von Schuld. Es gibt indes Orte, an denen das Fehlen von Beschreibungen besonders gut sichtbar ist.
Die Hoffnung stirbt in Russland zuerst. Das ist die Schlussfolgerung, die man aus der russischen Geschichte ziehen kann.
Was ist das, Glück?
Ein Pudding.
Einfach ein Pud-d-d-ing.
Unser Glück.
Ich bin gern Russe. Ich stelle mich gerne taub. Ich gehe spazieren und lasse alles zum einen Ohr rein und zum andern raus. Das darf man nicht, sagen mir alle. Aber ich sage: Sagt nicht zu mir »das darf man nicht«. Das ertrage ich nicht. Geht mir aus der Sonne.
»Wer im vorigen Leben Schuld auf sich geladen hat, den schickt die Vorsehung zum Umschmelzen nach Russland«, sagte der Graue. »Zur Strafe.«
»Wen genau?«, fragte ich neugierig.
»Na, alle möglichen Flittchen und Gauner«, sagte der Graue. »Also, die Unlauteren.«
»Und was ist mit Andrej Rubljow et cetera?«
»Kontrastprogramm.«
Geschichte des nationalen Fußballs
Peter der Erste spielte den Ball nach Europa, schoss, daneben – und das Fenster ging zu Bruch.
Die Nationalelf aus bärtigen Kerlen jagte den Ball nach Asien.
Die Röcke gerafft, nahm Katharina die Große das Spiel in die Hand.
Pawel jagte ihr den Ball ab und trat ihn in Richtung asiatisches Tor.
Alexander der Erste eroberte den Ball und beförderte ihn Richtung Europa.
Nikolai der Erste trat ihn Richtung Asien.
Sein Sohn, Alexander der Zweite, hämmerte ihn weit Richtung Europa.
Alexander der Dritte ballerte das Leder nach Asien.
Nikolai der Zweite trabte in Richtung Westen.
Lenin lenkte den Ball Richtung Asien.
Stalin schoss nach Lenins Pass ein Tor.
Die Anzeigetafel sprang auf 100:0.
Chruschtschow nahm den Ball am Mittelkreis auf und kickte ihn, ohne zu wissen warum, nach Europa.
Breschnew schoss ihn nach Asien.
Gorbatschow spielte auf der europäischen Seite des Spielfelds.
Jelzin setzte dessen Spiel fort, geriet aber in der zweiten Halbzeit aus dem Konzept. Steht da und weiß nicht, wohin mit dem Ball.
Ein Pfiff ertönte. Ein verspieltes Jahrhundert war zu Ende.
Gespräch über das Wichtigste
»Es gab eine Zeit, wo ich extrem um das Schicksal meiner Heimat besorgt war, ganze Nächte nicht geschlafen habe, ständig in Gedanken, wie man sie befreien könnte.«
»Von wem?« Sascha verstand nicht.
»Die Russen sind Meister im Erfinden von Feinden. Das musste mir einfach irgendwann auf die Nerven gehen.«
»Schon wieder hat uns der Staat ausgeraubt!«, verkündete Sascha vergnügt.
»Nicht der Staat!«, sagte ich finster. »Sondern der, den wir suchen!«
»Wir werden uns rächen!«, schwor Sascha.
»Das zwischenmenschliche Klima in Russland ist schlimmer als wirtschaftlicher Zusammenbruch und aggressive Bettelei«, erklärte ich.
»Ich bringe diesen Scheißkerl um!«, brüllte Sascha los. »Geben Sie mir bitte Mineralwasser, ein Narsan .«
»Und ich naiver Idiot hatte gedacht, dieser ganze Sowjetwahnsinn ist bloß aus Versehen über uns hereingebrochen, aber jetzt ist mir klar geworden, dass die Russen andere Völker ›im Schlaf erdrücken‹ können wie ein Schwein seine Ferkel und sich am nächsten Morgen nicht die Bohne darum scheren.«
»Ein Schwein kann sich nicht selbst ›im Schlaf erdrücken‹«, wandte Sascha ein. »Aber bei uns klappt das hervorragend. Schlaf, Kindlein, schlaf«, sang er, sich kräftig auf die Schenkel klatschend.
»Dein Vater ist ein Schaf«, stimmte ich ein. »Die Naivität der neuen Generation, die es so eilig hat, in die Mittelklasse aufzusteigen, sich zu verwirklichen und zu behaupten, ruft bei mir nicht weniger Verachtung hervor als die Dummheit ihrer Väter und Mütter.«
»Verachtung ist ein heikles Gefühl«, lachte Sascha leicht beleidigt. »Die Jugend muss an die Macht.«
»Ich kann natürlich nicht behaupten, dass ich all dem gegenüber gleichgültig bin. Mich irritiert der gnostische Gedanke über die Ungleichheit der Seelen, aber wenn ich die Heldentaten des Volkes betrachte, muss ich zugeben, dass der primitive Zustand, in dem sich das Volk befindet, ein Derivat seiner geistigen Möglichkeiten ist.«
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