»Glückliche Völker, die unter einem glücklichen Himmel leben, wie zum Beispiel die Italiener, bringen uns ein wenig die Karten durcheinander«, seufzte Sascha. »Gründen wir einen Geheimbund!«
»Was für einen?«
»Zur Erschaffung eines neuen Gottes.«
»Lassen Sie mich erst meine Gedanken über Russland zu Ende bringen! Über Russland wird gewöhnlich mit Rücksicht geschrieben. Entweder wird es bedauert oder man versucht es zu verstehen. Doch das Verstehen wird nicht etwa durch extreme Komplexität des russischen Bewusstseins erschwert, sondern im Gegenteil durch übermäßige Schlichtheit der hiesigen Sitten.«
»Da reden und reden wir hier, und über Capri hängt der Mond wie ein saftiger Zitronenschnitz«, sagte Sascha.
»Ein Mensch, der seine eigenen Interessen nicht begreift und sich sein Leben lang selbst schadet, kommt einem in der Tat rätselhaft vor. Ein Volk, das, nachdem es den allerersten Sputnik gestartet und Atomwaffen hergestellt hat, ein archaisches Gebilde geblieben ist, ist gefährlich und gnadenlos.«
»Ich behalte meine Überzeugungen selbstverständlich für mich«, sagte Sascha.
»Äußerlich verfolge ich die Linie eines intelligenten Menschen«, fügte ich hinzu.
Wenn es in Russland die russische Sprache nicht gäbe, sondern die Leute, sagen wir mal, Deutsch sprächen, dann gäbe es hier überhaupt nichts. Aber so haben wir wenigstens die russische Sprache.
Wollte ein mit temperamentvoller Lebenseinstellung gesegneter Kaukasier im sowjetischen Moskau in einem Restaurant zu Abend essen, fand er immer die richtigen Worte, um ein gutes Essen zu bekommen.
»Hör mal«, sagte der Kaukasier, wobei er seinen kaukasischen Akzent absichtlich dick auftrug, bedeutsam die Nase krauszog und dabei die Finger nah an die Nase führte, wodurch er sich in seiner Körpersprache von jenen mit korrekter Aussprache unterschied, sodass die Kellnerin sofort freundlich mit dem Kugelschreiber wedelte. Manche reichen Juden aus der Bohème waren ebenfalls fähig, sich etwas Gutes zu bestellen; an ihrem Schaschlikspieß gab es kein Stück ungenießbares Fett, wohingegen sich an meinem Spieß immer welches fand. Die Sache ist nicht einfach nur die, dass die Kellnerin auf die georgisch-jüdischen Trinkgelder vertraute. Sie vertraute dem sprachlichen Nachdruck, der Stimmlage. Der Russe hingegen, wenn er auch noch von auswärts kam, auf Dienstreise war oder einfach eine aufgedonnerte Geliebte im Schlepptau hatte, konnte auf keine Weise sprachlich Zugang zur Kellnerin finden, nicht einmal dann, wenn er Geld hatte. Er verhedderte sich in seinem lahmen Wortschatz. Darum aß der Russe immer nur Scheiße.
Manche meinen, die russische Sprache sei von einer großen Anzahl scheußlicher Wörter verunreinigt. Dazu zählt der »Mat«, die Vulgärsprache. Obendrein die postsowjetische Sprache. Aber die sowjetische Sprache ist wie das Tragen einer blau-roten Milizionärsuniform mit Mütze: Sie zwickt, ist zu eng, schlabbert, drückt. Egal welchem Russen man eine Milizionärsmütze aufsetzt, die Mütze ist stärker als der Russe. So war es. Alle sahen aus wie Milizionäre. Ich kannte so gut wie keine Ausnahmen.
Ich liebe den »Mat« wegen seiner magnetischen Anziehungskraft. Aber mir gefällt auch der feine Verfall der Sitten, das sanfte Korrektiv in den Beziehungen, wenn sich »Scheiße« fließend in »Scheibenkleister« verwandelt. Ich liebe verbales »Tohuwabohu«, die Mixtur aus unterschiedlichem Wortmüll. Als die Witze am Ende, als Redestil ausgetrocknet waren, weil die Wirklichkeit mit einem Witz nicht mehr zur Vernunft zu bringen war, kapitulierte das Wort, und man ging über zu flotten Sprüchen. Alles nicht so wild, denen geb ich eins auf den Deckel, Kindern gehören die Löffel langgezogen, bei mir ist alles paletti, wenn ich auch ein totaler Chaot bin.
Zu Sowjetzeiten fuhren die Autos nachts mit Standlicht. Standlicht – das ist bescheiden. Als der Kommunismus am Ende war, ging man ganz von selbst zum Abblendlicht über. Eben damit machte man auf sich aufmerksam. Aktiv. Wie bei der postsowjetischen Sprache. Man fuhr mit Abblendlicht. Und manch einer mit Fernlicht.
Aber diejenigen, die mit Fernlicht fuhren, waren so schnell, dass die Hälfte von ihnen in der Moskwa landete. Dort wurden sie ständig wieder herausgefischt. Und darum wählte die Sprache trotz allem das Abblendlicht.
Es beleuchtet das, was existiert: Frauenbeine, Müllcontainer, die Sehnsucht nach Hoffnung, allen möglichen Mist. Das Standlicht beleuchtete nur sich selbst. Abblendlicht hingegen – das ist schon Licht.
Installation des Pessimismus
Das irre Gefühl, dass alle teilweise Recht haben. Recht hatte Iwan der Schreckliche, der Kurbski zürnte. Recht hatte Nikolai, der den Dekabristen zürnte. Recht hatte Kurbski, der die russische Renaissance nicht ertrug. Recht hatte der Durchschnittsbürger, der niemandem glaubte. Recht hatte Jessenin, der Kneipengänger. Recht hatte die Welt der Kunst , deren Anhänger sich vom stinkenden Russland abwandten. Recht haben jene, die den Westen imitieren und Russland dessen Energie einhauchen wollen. Keiner hat Recht.
»Sie können sich wohl schlecht mit dem Staat versöhnen und irgendetwas ›Liebenswertes‹ an ihm finden?«, fragte mich Sascha.
Ein zweifelhafter Versuch, qualifizierbar als Verrat, Obskurantismus oder Erschöpfung. Etwas »Liebenswertes« findet sich nicht, es gibt nichts »Liebenswertes«. Verzweifelte Beschwörung ewiger Werte inmitten der Scheiße. Die dreiste Arroganz einer ewig mit sich selbst beschäftigten Staatsmacht, die keine Zeit hat, sich den Menschen verständlich zu machen. Neue Beleidigungen. Die Macht der russischen Intelligenzija ist das Denken außerhalb der Regierung. Dies ist aber auch eine ewige Schwäche. Der ewige Brief Belinskis an Gogol.
Jetzt, angesichts dessen, was passiert ist, scheint mir, dass das nicht mit mir geschehen ist. In Russland bist du am besten Pessimist, nichts leichter als das. Nichts akzeptieren, niemanden anerkennen. Du stehst da, spuckst aus. Wenn es besser kommt, als du gesagt hast, vergessen sie es. Wenn es sich als schlimmer herausstellt, machen sie dich verantwortlich: »Du hast was Anderes versprochen!«
Die seltenen Fälle von edlem Dienst am Vaterland, von argwöhnischen Zeitgenossen niemals anerkannt. Kein Vertrauen in Eigentum, das unehrlich erworben wurde. Der Kitzel der Neuverteilung. Bitterkeit im Mund – das ist der wichtigste Beigeschmack der Heimat. Die Unfähigkeit, das Land dazu zu bringen, für sich selbst zu arbeiten. Die Unfähigkeit, die ewige Entfremdung des Staates vom Menschen zu überwinden. Das endlose Gejammere. Das Dissidentengeschwätz. Das Martyrologium. Die endlose Schurkerei des russischen Lebens. Wenn das Leben dem Leben zuwiderläuft. Die Verklärung von Verzweiflung zu Heldentum und letzter nationaler Wahrheit. Die Enttäuschung mündet in Abscheu gegenüber dem Land.
»Der Geist Lermontows«, fasste Sascha zusammen.
Wir konnten nicht genug reden. Wir redeten und verallgemeinerten. Nächtelang. Unsere Worte flossen ekstatisch ineinander.
Das Erwachen eines primitiven Russlands. Mit seinen Ideen von Verrat und Verführung des Landes durch den Westen, die Juden, die Intelligenzler. Alles wird vergessen. Und alles wiederholt sich. Die lange Nacht der politischen Auseinandersetzungen, ausreichend für eine ganze Generation.
Worin besteht das Wunder Russlands? In der russischen Pathologie gibt es eine zusätzliche Dimension des Lebens. Das ist der wichtigste Wert. Ja, aber wer gehört zu dieser Dimension? Das Fußvolk ist verantwortungslos, abstoßend. Die Intelligenzija als Schicht hysterisch. Es gibt niemanden, aber es gibt Menschen.
»Sie öffnen sich ein wenig und verschwinden«, vermutete Sascha.
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