November 2020
ENZYKLOPÄDIE DER RUSSISCHEN SEELE
Ich liebe dir
Die Bodyguards schielten zum Fernseher hinüber. Ich trank in Gesellschaft von Leuten, die sich in der kriminellen Szene der Stadt gut auskannten. Ungeachtet meiner intelligenten Erscheinung bin ich imstande, die stärksten Typen unter den Tisch zu saufen; drei oder vier Flaschen Wodka am Abend zeigen bei mir keine besondere Wirkung, höchstens dass mir am nächsten Morgen die Haut am Bauch ein bisschen juckt. Diese Besonderheit hat mir mehr als einmal aus der Bredouille geholfen, manchmal aber zu unvorhersehbaren Folgen geführt, wie es letztlich auch in jener Nacht passierte.
Vom Mann an der Macht geht ein überirdisches Strahlen aus. In seinem gebieterischen Antlitz lodert anhaltende Ekstase. Im Saal wimmelt es von Obrigkeit. Betrunkene Geheimdienstler und Militärs, Vizepremiers, Führer und Unterdrücker der Demokratie, Staatsmänner, wichtige Pappnasen, Revanchisten und weitere Kremlschranzen ließen es krachen.
»Mein Blech ist besser als deins!«, waren Stimmen zu hören.
Jeder träumte von Blech.
»Dein Blech ist ja gar kein echtes Blech.«
»Ich hab vier Stück im Monat gekriegt.«
»Wann soll das denn gewesen sein!«
»Und ich habe eins aus Platin«, sagte einer.
Alle verstummten. Und ich fragte:
»Was für ein Blech meinen Sie denn?«
Sie kugelten sich vor Lachen.
»Und du, du hast wohl überhaupt kein Blech?«
»Nee, hab ich nicht!«, sagte ich wütend.
Gegen Morgen wollten sie plötzlich alle zusammen in den Kosmos fliegen. »Fliegt nur, ihr Täubchen«, dachte ich. Sie boten mir an mitzufliegen, als Chronist, und es gab auch noch andere, nicht weniger ehrenvolle Angebote. Es endete damit, dass einer von ihnen – anscheinend der hellste Kopf, der sogar eine Ahnung von Literatur hatte – mit mir ein Gespräch über die verborgene Seite des Lebens in unserem Land anfing.
»Ich hab dich gelesen, und du gefällst mir nicht«, begann er mit der kurz vor Tagesanbruch üblichen Offenheit, die Krawatte verrutscht über dem weißen Regierungshemd. »Aber lass dir gesagt sein: Das ist hier ein verhextes Land.«
Ich grunzte zustimmend.
»Bermuda-Dreieck nichts dagegen. Das hier, das ist viel irrer. Reformen? Bei uns? Vergiss es!«, versicherte mir der führende Reformer.
Ich glaubte ihm schweigend aufs Wort.
»Es gab da die Überlegung, eine verbindende Idee zu suchen. Gefunden haben wir nur, was uns trennt.« Er blickte sich nach allen Seiten um. »Der Alte stört.«
»Finden Sie was Besseres«, sagte ich.
»Das meine ich nicht«, sagte der Reformer, zog den Kopf ein und schickte sich sogar an, unverstanden zu verschwinden, rief aber stattdessen:
»Pal Palytsch!«
Ein gewisser Pal Palytsch tauchte auf, betrunken. Dem Äußeren nach ein Silowik – Militär oder Geheimdienst. Vor lauter bitteren Gedanken hängender Unterkiefer. In Zivil.
»Klär ihn auf über den Alten . Er glaubt’s nicht.«
Der Silowik blickte ängstlich Richtung Obrigkeit.
»Na, red schon, wo du schon mal angefangen hast«, sagte der Reformer nachdrücklich.
»Wir nennen es das wandelnde schwarze Loch«, zierte sich der Silowik. »Oder auch Trichter. Kurz gesagt, ein Eumel.«
»Das Gesetz des Verschwindens von Energie«, erklärte der Reformer.
Gespräche über alle möglichen bösen Kräfte sind mir immer willkommen, nur nicht mit betrunkenen Machthabern.
»Metaphern«, sagte ich.
»Triff dich mit ihm«, schlug der Reformer vor.
»Mit wem?«
»Mit dem Alten . Pal Palytsch organisiert das.«
»Er wird ihn aufsaugen«, sagte Pal Palytsch säuerlich und zeigte seine schlechten Zähne, zwischen denen Gold aufblitzte. »Schlimmer als ein Ufo.«
»Ich arbeite nicht für die Regierung«, warnte ich versöhnlich.
»Das ist eine persönliche Bitte«, unterstrich der Reformer.
Das Gespenst des russischen Schweins
Es kommt vor, dass man auf dem Balkon sitzt, Tee trinkt, mit Freunden plaudert, ruhig und guter Laune, nichts kündigt ein Unheil an, da wird einem plötzlich schwarz vor Augen, die Natur verdüstert sich, widrige Wirbelstürme erheben sich, man hört Getrampel, eine Sekunde später ist alles hinweggefegt, im nächsten Augenblick alles voller Blut. Es gibt für dich keinen Tee, keine Tagträume, keine Freunde mehr. Nach Tee steht man in kilometerlangen Schlangen an, der Balkon ist heruntergekracht, deine Freunde haben vom Horror des Lebens nur noch die Hosen voll.
Und man denkt inmitten all dieser Herrlichkeit:
»Danke, lieber Gott, für die Wissenschaft, danke für die Prüfungen.«
Gegen Morgen erwachte ich wie vom Donner gerührt mit dem deutlichen Gefühl: Ich bin ein Feind des Volkes. Die Deckenlampe schaukelte verdächtig hin und her. Ich dachte: Ich habe wohl doch einen über den Durst getrunken. Vor lauter Aufregung angesichts der Begegnung mit der Staatsmacht. Wir tun alle nur so, als ob die Staatsmacht uns kalt ließe. Beunruhigt sprang ich aus dem Bett, lief zum Spiegelschrank und schlug mir auf beide Wangen meines verschlafenen Gesichts. Aus dem Spiegel blickte mich mürrisch die ungewaschene Visage eines Volksfeindes an.
»So, genug ist genug!«, beschloss ich. »Alles im Arsch oder alles auf Anfang! Entweder oder.«
Um ehrlich zu sein, habe ich auch früher schon mit dem Volk nichts am Hut gehabt, ich habe nie eine Träne verdrückt ob meiner Zugehörigkeit. Ich kenne Momente, in denen ich am Volk misstrauisch geschnüffelt habe, in denen ich sogar Übelkeitsattacken hatte. Aber ich bin damit fertig geworden und habe weiter gelebt wie alle, in der dumpfen Hoffnung auf irgendetwas.
Nun stellte sich alles anders dar. Ich legte mich wieder hin, schlief deprimiert ein, schlief lange, traumlos, erwachte mittags: Und immer noch war ich ein Volksfeind. Aber nicht im Sinne unserer Vorväter , als wäre ich ein Konterrevolutionär. Oder als ob man mich verleumdet hätte. Ich habe nie an die Unschuld der Opfer geglaubt: Der Mensch ist immer mit irgendetwas unzufrieden, und das kommt ans Licht. Aber ich spürte durch und durch, dass niemand anderer als ich selbst mich zum Volksfeind erklärt hatte; so etwas ist irreversibel.
Was für ein Zustand das ist? Ich möchte mir nicht zumuten, ihn in allen Einzelheiten zu beschreiben. Er war eben erst in mich eingedrungen und begann mich zu erfüllen. Er ist nicht durch flammenden Hass gekennzeichnet, bei dem man schreien will und alles zum Teufel wünscht. Wut ist eine banale Gefühlsäußerung. Dagegen ist die Todesstrafe eine love story . Hier aber war es wie nach einem Sturm. Der Herbstwind bewegte sanft die Vorhänge. Mit der eintretenden Abkühlung der Empfindungen wuchs die Verachtung. Ein ruhiges, kein brennendes Gefühl.
Ich hatte Lust, es mit Sport und Gleichgültigkeit zu unterdrücken. Ich stieg ins Auto, um auf den Sperlingsbergen meine üblichen vierzig Minuten zu joggen. Ich trabte dahin und dachte: Finde dich ab. Finde dich ab: da, Dolden von Vogelbeeren. Der Fluss, ein Lastkahn, die Tribünen, der Glockenturm – finde dich ab. Nicht mehr ganz junge Offiziere, die einen ihrer routinemäßigen Ausdauertests ablegten, hüllten mich in ihren Schweißgeruch ein – halt dir die Nase zu und finde dich ab. Kurz vor ihrer Zielgeraden kam der Oberaufpasser auf mich zugeschossen und brüllte:
»Schon wieder Letzter!«
»Schlimmer als das!«, sagte ich zu dem Oberst und warf das Handtuch.
Ich bin ein Volksfeind. Kein schönes Gefühl und kein Grund, stolz zu sein. Zum Gefühl der Verachtung gehört weniger Hochmut als vielmehr Hoffnungslosigkeit. Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht einmal einen konkreten Anlass hatte. Gestern, auch in der vorigen Woche, hatten die Russen nichts Außergewöhnliches angestellt. Sie waren nicht auf der »Aurora« in die Mitte des Flusses gefahren (obwohl es sie in den Fingern gejuckt hatte), sie hatten keinem Säugling die Kehle durchgeschnitten (obwohl sie das hätten tun können). Sie lebten wie immer, tranken Bier, aber ich konnte mich schon nicht mehr damit abfinden.
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