Warum reicht das aber nicht aus? Bleiben wir beim Beispiel des Gartenschlauchs außen am Haus. Der Gartenschlauch selbst wird nicht das Problem sein. Vielleicht ist aber zum Beispiel die Wasserpumpe in Ihrem Haus defekt und dadurch der Druck im ganzen Haus viel zu hoch. Doch diese mögliche Ursache kennen Sie nicht und so wird am Gartenschlauch das Symptom behandelt, bis irgendwann eine Wasserleitung im Haus platzt, das Haus überflutet ist und ein riesiger, vielleicht irreparabler Wasserschaden entstanden ist.
Genauso bei Ihrem Blutdruck. Warum bei Ihnen der Blutdruck gestiegen ist und ob Ihr Blutdruckanstieg die gleiche Ursache hat wie bei anderen Patienten, bleibt in den meisten Fällen im Unklaren; bei hohem Blutdruck gilt das für 95 Prozent aller Patienten. Als Bluthochdruckpatient kommen Sie ab sofort regelmäßig in die Arztpraxis, bekommen Ihr Rezept, irgendwann sehen Sie schon gar nicht mehr den Arzt, sondern rufen nur noch die Sprechstundenhilfe an, dass Sie wieder ein neues Rezept brauchen, und so weiter … Trotzdem alles gut? Nein. Ob es Alternativen zu Arzneimitteln gab und ob Sie von diesen Blutdruckmitteln wirklich einen Vorteil haben werden, wird für Sie unbeantwortet bleiben, bis das Gleiche wie mit der Hauswasserleitung passiert. Es kommt zu einem schweren Schaden. Im Fall von Bluthochdruck können dies zum Beispiel ein plötzlicher Herztod oder eine Hirnblutung sein. Nur die wenigsten dieser Komplikationen werden durch Blutdrucksenker verhindert. Dazu kommen wir aber noch später.
Genauso ist es beim Cholesterin. Ihr entsprechender Wert im Blut sinkt, weil Sie einen der sogenannten Cholesterinsenker einnehmen. Sie wirken vor allem in der Leber und führen dazu, dass Cholesterin aus dem Blut transportiert wird. Der Cholesterinwert im Blut sinkt. Alles gut? Nein. Warum er gestiegen war, ob es Alternativen zur Arzneimittelbehandlung gab und ob Sie von diesen Cholesterinsenkern wirklich einen Vorteil haben werden, wird zeitlebens für Sie unbeantwortet bleiben, bis Sie, wie bei den Blutdrucksenkern im obigen Beispiel, doch irgendwann einen Herzinfarkt oder Schlaganfall haben – denn nur die wenigsten der Herzinfarkte und Schlaganfälle werden durch Cholesterinsenker verhindert.
Und genauso lässt sich dies für Herzschwäche und Asthma weiterführen. Bei Herzschwäche oder Herzinsuffizienz sind etwa die Hälfte aller Formen noch nicht einmal symptomatisch behandelbar und jeder zehnte Patient stirbt innerhalb von zwei Jahren. Das ist eine schlechtere Prognose als bei vielen Krebserkrankungen.
Als Asthmatiker nehmen Sie Arzneimittel ein, die entweder die Atemwege (wieder ähnlich wie bei dem Gartenschlauch-Beispiel und Bluthochdruck) erweitern, oder solche, die antientzündlich wirken. Warum aber Ihre Atemwege sich verengt haben oder warum sie entzündet waren, bleibt in den meisten Fällen unbeantwortet. Die Symptome sind beseitigt; mehr ist nicht möglich. Beim Asthmatiker lässt sich immerhin sagen, dass die Lebenserwartung bei angemessener Behandlung derjenigen eines Gesunden entspricht und auch die Lebensqualität muss keineswegs eingeschränkt sein. Dennoch: Die Ursache bleibt unerkannt und unbehandelt.
Medizin und unser Gesundheitssystem sind also im Wesentlichen auf Krankheit ausgerichtet, kennen die Ursachen der Erkrankungen nicht und behandeln Patienten symptomatisch, um so zu versuchen, ernstere Konsequenzen zu verhindern – und das chronisch, da eine Heilung auf die Weise nicht erzielbar ist. So werden bereits zehn Prozent aller 18- bis 29-Jährigen als chronisch krank eingestuft; ab 30 schon jeder Fünfte; ab 60 über ein Drittel und ab 70 jeder Zweite. Dass Krankheiten mit dem Alter zunehmen, mag noch zu erwarten sein – doch warum sind so viele Erkrankungen chronisch?
Die Ursachen hierfür sind vielfältig und obwohl sich alle Beteiligten im System, wie Ärzte, Krankenkassen, Patienten, Arzneimittelhersteller und so weiter, mit dieser Situation irgendwie eingerichtet haben, auch finanziell, würde ich keinem unterstellen, sie täten dies aus kommerziellem Interesse. Wir können es gegenwärtig in der Medizin einfach nicht besser.
Nicht nur bei meinem Lieblingsbeispiel (weil es so häufig und grotesk ist) Bluthochdruck, bei fast allen, insbesondere chronischen Erkrankungen ist die Ursache unklar. Mit Ursache ist der genaue molekulare Mechanismus gemeint, der die Symptome verursacht. Mit molekularem Mechanismus meint man das genaue Wissen, welche Moleküle, Botenstoffe, Hormone oder Signalwege in unserem Körper verändert sind, sodass die Symptome entstehen, aber auch die langfristigen ernsten Konsequenzen, wie zum Beispiel ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob ich auf Symptome oder Ursachen schaue. Behandele ich lediglich Symptome und nicht die Ursachen, werden die Symptome immer wieder auftreten und müssen immer wieder behandelt werden. Nur wenn ich die Ursache gefunden habe, besteht eine prinzipielle Hoffnung auf Heilung. Da dies aber bei den meisten Krankheiten nicht der Fall ist, wird man als Patient eben als chronisch krank definiert, die Symptome treten immer wieder auf und müssen ständig unterdrückt werden.
Zumeist geschieht die Symptombehandlung mit Arzneimitteln. Circa 70 Prozent aller ärztlichen Maßnahmen beinhalten die Verschreibung eines Arzneimittels. Was jeweils Stand der Wissenschaft ist oder innerhalb eines Landes oder Gesundheitssystems als solcher angesehen wird, wird in sogenannten Behandlungsleitlinien festgehalten. Im Idealfall basieren diese auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen, oftmals aber auch nur auf Expertenmeinungen. Wie diese durchaus fundamental divergieren können, haben wir in der Corona-Pandemie erlebt.
Wichtig für das System ist, dass leitliniengerechte Behandlung von den Krankenkassen erstattet wird. So sind alle zufrieden: Sie als Patient denken – zumindest bis Sie den ersten Teil meines Buches zu Ende gelesen haben –, Sie seien gut behandelt. Sie sind halt Chroniker. Der Arzt hat mit Ihnen einen regelmäßig erscheinenden Patienten, der jedes Quartal seine Versichertenkarte einlesen lässt, da Sie ja ein neues Rezept brauchen – offiziell natürlich nur nach einem mit der Krankenkasse abrechenbaren persönlichen Gespräch mit dem behandelnden Arzt und nicht etwa nur mit der Sprechstundenhilfe vorne am Empfang. Auch die Apotheke ist zufrieden: ein Rezept und vielleicht noch ein Zusatzverkauf jedes Quartal (ein Anreiz, kritisch zu beraten, besteht ja nicht, da Apotheker nicht ihre Arzneimittelberatung, sondern ausschließlich ihre Kosten nach abgegebenen Arzneimitteln erstattet bekommen). Die Pharmaindustrie ist auch zufrieden und das Krankenhaus auch, da die Symptome gelegentlich ernster werden und ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist.
Abb. 2:Die Entstehung einer chronischen Erkrankung. Unten die Zeitachse, links die Verschlimmerung der Symptome oder Krankheit. Lange Zeit passiert nichts; Sie wissen gar nicht, dass eine Krankheit in Ihnen brodelt. Deren Ursachen sind auch unklar. Dann treten plötzlich Symptome auf, die einer Behandlung bedürfen. Die Ursache ist aber noch immer unklar. Also können nur Ihre Symptome immer wieder durch regelmäßige Einnahme von Tabletten behoben werden. Die eigentliche Ursache der Erkrankung brodelt aber weiter in Ihnen und ob Sie irgendwann dadurch eine schwere Komplikation erleiden oder früher sterben werden, bleibt zeitlebens ungewiss.
Alles läuft Hand in Hand. Nicht perfekt, aber alle Beteiligten haben sich irgendwie eingerichtet. Doch wo ist der Haken in diesem Krankheitssystem? Er liegt darin, dass der Ausgang, was die für den Patienten relevanten Konsequenzen betrifft, komplett ungewiss ist. Denn die Behandlung der Symptome ist oft nicht das, was den Patienten wirklich interessiert, sondern es sind die Langzeitkonsequenzen: Blutdruck tut nicht weh, sondern der damit assoziierte plötzliche Herztod oder die Hirnblutung; auch der erhöhte Cholesterinwert im Blut tut nicht weh, sondern der damit assoziierte Herzinfarkt oder der Schlaganfall; nicht die gelegentliche Atemnot, sondern das tödliche Herzversagen; auch die erhöhten Zuckerspiegel machen dem Diabetiker lange Zeit nichts aus, wichtiger ist die Frage, ob er vor Nierenversagen, Nervenschäden und Erblindung geschützt ist. All dies kann dem Patienten kein Arzt versprechen. Der Ausgang ist und bleibt ungewiss. Aber bitte nächstes Quartal wiederkommen wegen des Rezepts. Können Sie denn wenigstens davon ausgehen, dass Sie zumindest einen kleinen Vorteil von dem Arzneimittel haben, das Sie einnehmen? Nein, im Gegenteil. Sie können davon ausgehen, dass Sie keinen Vorteil davon haben werden …
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