„Charles hat eingewilligt, mit mir zu gehen.“ Sie blieb stehen, während sie ihren Standpunkt verteidigte.
„Hat er?“, fragte ihr Vater mit leicht ärgerlichem Blick. „Ich frage mich, warum er das nicht zuerst mit mir besprochen hat.“
„ Papa “, sagte sie leise, „sei nicht böse auf Charles. Ich bin nicht mutig genug, allein zu gehen, und ich habe ihn gefragt, ob er mitkommt, bevor ich zu euch gekommen bin. Ich muss es tun. Ich will es nicht unbedingt, aber ich muss .“
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, warum wir uns jemals darauf eingelassen haben, was du und Aidan getan habt“, sagte ihre Mutter mit Bedauern.
„ Maman , du liebst Aidan genauso sehr wie ich. Ich weiß, dass es nur eine kleine Chance gibt, ihn lebend zu finden, aber ich muss es zumindest versuchen. Ich kann mein Leben nicht weiterleben, wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß.“
„Wo willst du denn dort bleiben? Wie willst du dorthin kommen? Bist du dir überhaupt darüber im Klaren, was es heißt, quer über den Ozean in ein anderes Land zu reisen?“, entgegnete ihr Vater ziemlich harsch.
„Charles hat einen Freund, der als Kapitän eines Schiffes regelmäßig hin und zurück fährt. Er wird uns nach Virginia auf die Easton Plantage bringen. Ich hatte gehofft, dass ich mit den Ermittlern in Verbindung treten könnte, um zu erfahren, was sie herausgefunden haben, und wo sie schon überall nach ihm gesucht haben.“ Sie trug ihr Anliegen weiter vor, und ihre Eltern hörten ihren gut überdachten Argumenten aufmerksam zu. „Ich denke, falls er jetzt anders aussieht oder irgendwie verletzt ist, kann ich ihn vermutlich eher erkennen als sie.“
„Du hast dir wirklich sehr viele Gedanken gemacht“, meinte ihr Vater.
„Ich habe an kaum etwas anderes gedacht während der letzten vier Jahre“, sagte sie leise. „Ich habe versucht, mir vorzustellen, dass er tot ist, und andere Anwärter zu berücksichtigen, aber ich kann es nicht.“
Ihre Mutter legte den Kopf in ihre Hände und schüttelte ihn hin und her. „Ich möchte nicht, dass du gehst. Kann Charles nicht allein gehen? Er war sein bester Freund - er könnte ihn doch bestimmt wiedererkennen.“
„Aber ich bin seine Ehefrau.“
„Niemand weiß das, Anjou“, protestierte ihre Mutter.
Ihr Vater seufzte laut. „Eine Fehlentscheidung, die ich immer noch bedaure. Du brauchst unsere Genehmigung nicht, um zu gehen.“
„Ich würde sie aber dennoch lieber haben.“
Ihr Vater schwieg einen Moment, und sie dachte schon, er würde sich weigern. Dann nickte er ihr, wenn auch widerstrebend, zu.
Anjou war angsterfüllt. Sie hatte noch niemals zuvor einen Ozean überquert. Sie war nicht so mutig wie ihre Schwestern, aber sie konnte ihr Leben nicht weiterleben, bis dass sie sich sicher war. Ihr Verstand sagte ihr, dass Aidan nach vier Jahren nicht mehr am Leben sein würde, aber ihr Herz sagte ihr, dass sie nach ihm suchen musste. Sie war noch nie weiter gesegelt als über den Kanal von Frankreich nach England, und sie wollte jetzt auch genauso wenig auf einem Schiff sein wie damals. Wenn ihr Bruder Charles nicht zugestimmt hätte sie zu begleiten, wäre sie jetzt schon wieder umgekehrt.
Sie stand am Pier und sah zu, wie die Ladung auf das Schiff gebracht wurde. Die Isle of Wight, die nur eine kurze Reise entfernt war, machte ihr die Entfernung, die sie plante zurückzulegen, erschreckend deutlich. Die Luft war stickig und heiß, und nur eine gelegentliche Brise verschaffte ihr etwas Erholung von dem Geruch des vergammelten Fisches und des Salzwassers. Sie betete, dass es nicht die ganze Zeit auf der Reise so stinken würde. Charles hatte ihr gesagt, dass keine anderen Frauen außer ihr und ihrer Zofe an Bord wären, daher rechnete sie diesbezüglich mit dem Schlimmsten.
„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“, fragte ein Mann mit der tiefen Stimme eines Gentlemans.
Anjou erschreckte sich, da sie in Gedanken versunken war.
„Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber eine Lady sollte nicht allein am Pier stehen.“
Sie sah hoch zu einem unangenehm großen Mann, der sich über sie beugte. Er war wettergegerbt und hatte einen Bart, der einige Tage alt war, aber sie konnte seine Augen nicht sehen, da ihr die Sonne ins Gesicht schien und sie außerdem vom Schatten seines Hutes verborgen waren.
„Ich bin nicht allein. Ich bin hier mit meinem Bruder und meiner Zofe. Er sucht nach jemandem, der unsere Truhen auflädt“, antwortete sie und fühlte sich sehr unwohl in der Gesellschaft dieses Fremden, dem sie nicht vorgestellt worden war.
„Auf die Wind ?“, fragte er zweifelnd.
„Ist das der Name des Schiffes?“, fragte sie und aus irgendeinem Grund vergaß sie seine Frage und lächelte.
„Ihr voller Name ist „ Mit dem Wind“ , aber wir nennen sie einfach nur Wind .“ Seine Augen funkelten amüsiert.
„Dann muss es wohl so sein“, sagte sie, als sie das große, hölzerne Schiff mit all seinen Masten, Segel und Seilen sah, das sich irgendwie aufrecht auf dem Ozean halten sollte. Es machte ihr jetzt weniger Angst, da es ihre Bestimmung war.
„Was muss so sein?“, fragte er misstrauisch.
„Meine Reise nach Amerika.“ Sie betrachtete ihn genauer und fragte sich, was ihn das anginge. Seine Augen hatten eine merkwürdige Farbe, grau-grün, und sie waren sehr beunruhigend, als er sie damit von oben bis unten musterte.
„Darf ich vielleicht fragen, wer ihr Bruder ist?“
„Charles Winslow. Er ist ein Freund des Kapitäns.“
„Ach, ist er das?“
„Stellen Sie sich denn jetzt selbst auch vor?“, fragte sie und wurde bei all seinen Fragen langsam ungeduldig.
„Edward Harris, zu Ihren Diensten.“ Er zog seinen Hut und bot ihr eine vollendete Verbeugung. Er setzte den Hut wieder auf und fuhr fort: „Kapitän der Wind .“
„Ich bin ...“
Er unterbrach sie. „Ich weiß genau, wer Sie sind, mylady , und ich bin überhaupt nicht erfreut darüber.“
Charles kam zurück, nachdem er überwacht hatte, wie ihre Truhen an Bord des Schiffes gebracht wurden. Allerdings wurde er nicht so begrüßt, wie er es normalerweise von einem alten Freund erwartet hätte.
„Winslow. Mir nach, sofort.“ Edward drehte sich auf dem Absatz um und schritt davon, ohne auf eine Antwort zu waren. Er ging auf das Schiff zu, außer Hörweite von Anjou.
„Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen“, murmelte Charles, als er ihm folgte.
„Was soll das? Du hattest deine Schwester mit keinem Wort erwähnt. Ich meine mich daran zu erinnern, dass du gesagt hattest, der Name des Passagiers sei Andrew. Ich hätte niemals zugestimmt, eine Lady an Bord zu haben“, sagte Captain Harris und hielt an, um sich umzudrehen und Charles anzuschauen.
„Nein. Ich sagte Anjou.“
„Anjou. Andrew“, Harris fluchte, als ihm die Ähnlichkeit bewusst wurde. „Wie auch immer, sie kann nicht mitkommen.“
„Du kannst sie nicht einfach ablehnen, nachdem sie endlich den Mut aufgebracht hat, diese Reise zu unternehmen!“
„Oh, und ob ich das kann. Und ich werde es tun.“ Er setzte sich in Bewegung, um in die Tat umzusetzen, was er gerade angekündigt hatte, aber Charles ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück.
„Du verstehst das nicht“, sagte Charles leise.
„Ich verstehe das ganz hervorragend. Hast du eine Ahnung, wie unzüchtig Seemänner werden, wenn sie wochenlang ohne eine Frau sind? Sie an Bord zu haben ist genauso, als ob Satan einen Apfel vor Evas Augen baumeln ließe. Eine verbotene Frucht.“ Er hob seine Hand hoch, als ob er etwas Verführerisches vor Charles‘ Gesicht hielte. „Ich würde meine eigene Schwester dem nicht aussetzen. Von dem Aberglauben, eine Frau an Bord zu haben, einmal ganz zu schweigen. Es bringt Unglück.“
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