„Nun muß ich auch meiner Liebsten schreiben, nachdem ich mein schweerstes Pensum geendigt habe. Die Erzählung am Schlusse Werthers ist verändert, gebe Gott daß sie gut gerathen sey, noch weis niemand nichts davon, Herder hat sie noch nicht gesehn. Kaum ist’s physisch möglich daß ich vor meinem Geburtstag fertig werde, doch hoff ich noch, geht es; so erleb ich diesen Tag nicht hier“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 6).
Über Herders Meinung zum veränderten Schluss kann er dann am 1. September 1786 an Frau von Stein berichten: „Herder hat sehr treulich geholfen, und über das Ende Werthers ist die Sache auch entschieden. Nachdem es Herder einige Tage mit sich herumgetragen hatte, ward dem Neuen der Vorzug eingeräumt. Ich wünsche daß dir die Verändrung gefallen und das Publicum mich nicht schelten möge“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 11). Dem Verleger Göschen teilt er unter dem Datum vom 2. September 1786 mit, dass er seinen Sekretär SeidelSeidel, Philipp Friedrich mit den Manuskripten schicken werde. Weiter schreibt er:
„Ich lege verschiedene Bemerckungen hier bey, die Bezug auf den Druck haben, machen Sie davon beliebigen Gebrauch, ein kluger Korrektor muß am Ende doch das beste thun.
Käme ja ein Fall vor, über den man sich nicht zu entscheiden wüßte, so ersuch ich Sie deshalb, direckt bey dem Herrn Generalsuperintendent Herder in Weimar anzufragen. […] er wird entweder mit mir über die Sache reden, oder sie selbst entscheiden, welches ich zum voraus alles genehmige.
Eben so bitt ich auch, die Proben des Drucks, und in der Folge die Aushängebogen an Hrn. Generalsuperintendent zu überschicken“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 15).
GoetheGoethe, Johann Wolfgang räumte damit HerderHerder, Johann Gottfried und in geringerem Umfang auch WielandWieland, Christoph Martin weitgehende Vollmachten in Fragen der Verbesserung des Manuskripts und des Drucks seines Romans ein.
Der Textzeuge H ist mithin für die EditionsphilologieEditionsphilologie des WerthersDie Leiden des jungen Werthers unverzichtbar. Nachweislich bietet die Weimarer Ausgabe nicht alle Abweichungen der Handschrift von der Druckfassung 1787. Die Differenzen zwischen Handschrift und Druck der Zweitfassung sind aber stellenweise beträchtlich. Um nur einige wenige Beispiele der Unterschiede zwischen Druckfassung und Handschriftenfassung zu benennen: „Bauerhäusern“ statt „Bauerhöfen“ (AA, S. 12)25, „Lottchens“ statt „Lottens“ (AA, S. 23), „geben Sie nur mehr Aufträge“ statt „geben Sie mir nur mehr Aufträge“ (AA, S. 46), „am 16. Junius“ statt „am 16. July“ (AA, S. 90), „herauf schnellten“ statt „herauf schellten“ (AA, S. 147), „zu einem Gange nach Werthern“ statt „nach einem Gange nach Werthern“ (AA, S. 152), „im blauen Frack“ statt „im grauen Frack“ (AA, S. 157). Die Weimarer Ausgabe stellt demgegenüber klar, dass alle Änderungen der Handschrift und offenbaren Fehler rückgängig gemacht werden, die aus den unterschiedlichen Werther -Drucken bis 1787 stammen (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 351). Außerdem schränkt der Herausgeber selbst seinen editorischen Anspruch ein, und das ist philologischPhilologie gesehen mehr als nur eine Captatio benevolentiae: „Eiserne Consequenz in der Auswahl der mitgetheilten Lesarten ist nicht beabsichtigt, es musste dem Gefühle des aus der Überfülle schöpfenden Herausgebers überlassen bleiben, was ihm beachtenswerth zu sein schien“; er begründet dies mit der „die grösste Sorgfalt ermüdenden Masse von Varianten“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 352). Gelegentlich finden sich also auch im Anmerkungsapparat der Weimarer Ausgabe Lese- oder Druckfehler und stillschweigende Berichtigungen, die editionsphilologischEditionsphilologie problematisch bleiben.
Im Kommentar zur Weimarer Ausgabe heißt es über H lapidar: „Diese für den Druck bereitete Handschrift wird im GoetheGoethe, Johann Wolfgang- und SchillerSchiller, Friedrich-Archiv aufbewahrt“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 329). Mit der Edition von 1999 werden eine weitere Stufe der Text- und Druckgenese des WerthersDie Leiden des jungen Werthers und ein wichtiges philologisches Instrument der Goethe-PhilologiePhilologie zugänglich gemacht.
Mit Goethe gegen Goethe ließe sich in den Worten Werthers sagen, dass „ein Autor, durch eine zweite veränderte Auflage seiner Geschichte, und wenn sie noch so poetisch besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden muß“26. Ob Schaden oder nicht – die entscheidenden Merkmale der Umarbeitung sind diese, erstens: Ist die Erstfassung Zeugnis des kraftgenialischen Stils der Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang27, so tilgt die Zweitfassung exakt dieses Merkmal. Sie versucht, die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten und Freiheiten einzuebnen und einer konventionalisierten Sprachprosa anzugleichen. Zweitens: Zum Titel sei nur so viel bemerkt: Die oft zu lesende Form des Titels mit der schwachen Flexion des Namens: „ […] des jungen Werther “ statt „ […] des jungen Werthers “, taucht schon zeitgleich als Titelvariante zur Zweitfassung auf. Die meisten von dieser Druckfassung abgeleiteten Titelauflagen und Druckvarianten behalten aber die starke Flexion des Namens („ Werthers “), lediglich der Artikel fällt weg. Die schwache Flexion ohne Genetiv-‚s‘ findet sich erstmals in einer Werther -Ausgabe von 1787, die als Nachdruck einer Titelauflage der Titelauflage (!) der Zweitfassung von 1787 gilt. Diese Ausgabe wird mit der Sigle D 3bbelegt.28 Im gleichen Jahr erscheint noch eine weitere Druckvariante mit schwacher Titelflexion, doch setzt sich dies erst von der Ausgabe Die Leiden des jungen Werther. Neue Ausgabe, von dem Dichter selbst eingeleitet (Leipzig, Weygandsche Buchhandlung 1825) an durch, die bereits 1824 erschienen war, wegen des 50-jährigen Druckjubiläums der Erstausgabe aber auf 1825 datiert wurde.29 Drittens: Die Neuformulierungen, Umstellungen, Textkürzungen und andernorts Texterweiterungen im Roman-Herausgeberbericht der Zweitfassung, die durch den Paralleldruck gut sichtbar werden, unterstreichen dessen narrative Bedeutung. Viertens: Das signifikante Kennzeichen von Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang, die Elision, die das assoziative und eruptive, sich nicht an den Sprachregelungen und Ordnungsmustern verständiger Rede orientierende individuelle Sprechen dokumentieren soll, wird nun in der Zweitfassung getilgt. Fünftens: Auf zeitgenössische Schicklichkeitsstandards und auf gesellschaftliche Scham- und Peinlichkeitsschwellen wird in der Zweitfassung Rücksicht genommen, so wird beispielsweise das Wort Hose in Beinkleider geändert. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe von signifikanten Änderungen im Wortbestand und Wortgebrauch nachgewiesen, die eine auffällige Verschiebung weg von den Sturm-und-Drang-typischen Kraftausdrücken hin zu einer konventionalisierten Sprachform dokumentieren.30 Der lemmatisierte Index31 und die zu erwartende wortstatische Auswertung eines digitalisierten WertherDie Leiden des jungen Werthers -Textes können diese Ergebnisse der älteren Werther -Forschung sehr präzise ergänzen. Das Wort Kerl wird in der Zweitfassung fast restlos getilgt. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: in der Erstfassung von 1774 gebraucht GoetheGoethe, Johann Wolfgang das Wort Kerl 15-mal und Kerlchen ein einziges Mal.32 In der Zweitfassung von 1787 tauchen die Wörter Kerl und Kerlchen jeweils nur noch einmal auf und wurden vermutlich bei der Korrektur übersehen.33 Nach AdelungAdelung, Johann Christophs Grammatisch-kritischem WörterbuchGrammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793ff.) wird Kerl „nur noch in der niedrigen, höchstens niedrig-vertraulichen Sprechart, am häufigsten aber von geringen Personen gebraucht“34. Diese Sprachbereinigung veranschaulicht eindrücklich die gesellschaftlich-politische Intentionalität von historischen Sprachregelungen. Sechstens: Fremdwörter werden aufgelöst. Die zweite WertherDie Leiden des jungen Werthers -Fassung wird also insgesamt aus dem Kontext der Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang und ihrer Protesthaltung herausgelöst und zu einem Initiationstext der goetheschen Weimarer Klassik.
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