„Ich nenne das schönste Lustspiel nicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist, nicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwicklungen, und die natürlichsten Auflösungen hat: sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kömmt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils auch besitzt. Was ist aber die Absicht des Lustspiels? Die Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern. Die Mittel die sie dazu anwendet, sind, daß sie das Laster verhaßt, und die Tugend liebenswürdig vorstellet.“39
Dieser Bestimmung einer sozialpädagogischen Absicht des Lustspiels folgt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold dann nicht mehr. In seiner Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt ,Rezension des neuen Menoza die am 11. Juli 1775 in den Frankfurter gelehrten AnzeigenFrankfurter gelehrte Anzeigen erschien, bringt er dies deutlich zum Ausdruck: „Ich nenne durchaus Komödie […] eine Vorstellung die für jedermann ist“, die Komödie ist ein „Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. Daher schrieb PlautusPlautus, Titus Maccius komischer als Terenz […]“.40 Das ist die programmatische Absage an die traditionelle Laudatio-Vituperatio-PoetikPoetik, der 1750 auch noch Lessing verpflichtet gewesen war, wonach das Laster verabscheuungswürdig in der KomödieKomödie, und die TugendTugend lobenswert in der TragödieTragödie dargestellt werden sollten. Außerdem kommt bei Lenz der Impetus zur Auflösung des ständischen Publikums hinzu, der die sozialen Unterschiede des bürgerlichenbürgerlich Publikums zumindest postulativ einebnet.
Die AlgiererDie Algierer erweisen sich also in poetologischerPoetologie und sozialgeschichtlicherSozialgeschichte Hinsicht als ein wichtiges Zeugnis des Übergangs. Die Plautus-Bearbeitungen insgesamt sind für die Entwicklung von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ eigener dramatischer Produktion von großer Bedeutung (und in dieser Hinsicht von der Forschung bislang nicht genügend berücksichtigt), konnte er hier doch im geschützten Raum römischer Komödien Figurenensembles, Konfliktkonstellationen und dramaturgische Neuerungen erproben. Das Movens insbesondere für Lenzens AlgiererDie Algierer ist aber ein psychogenetisches: die Arbeit an jener Instanz, die als Tripelidentität aus Christian David LenzLenz, Christian David, PlautusPlautus, Titus Maccius und LessingLessing, Gotthold Ephraim der Identitätssuche des Sohnes entgegensteht – oder wie man diesen Prozess kurz bezeichnen kann: die Arbeit am Vater.
GoetheGoethe, Johann Wolfgang Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers (1774 / 1786 / 1787)
Die EntstehungsEntstehungsgeschichte- und DruckgeschichteDruckgeschichte von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers ist bekannt. Um berufliche Erfahrungen zu sammeln, geht der junge Dichter von Mai bis September 1772 an das Reichskammergericht in Wetzlar. Der Sekretär des Gerichts Christian KestnerKestner, Johann Christian (1741–1800) wird Goethes Freund. Mit dessen 19-jähriger Braut Charlotte BuffBuff, Charlotte (1753–1828) verbindet ihn eine enge Freundschaft. Sie wird das Vorbild für die Lotte im Roman. GoetheGoethe, Johann Wolfgang lernt sie am 9. Juni 1772 auf einem Ball kennen. Auch Karl Wilhelm JerusalemJerusalem, Karl Wilhelm (1747–1772), der Goethe schon aus der Leipziger Studienzeit kannte, hält sich in Wetzlar auf. Er wird das Vorbild für die Figur des Werther. Nach seinem Weggang aus Wetzlar geht Goethe nach Koblenz und trifft sich dort bei der Familie von La Roche mit seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich (1741–1791). Die älteste Tochter der La Roches ist die 16-jährige Maximiliane von La RocheLa Roche, Maximiliane von (1756–1793). Goethe verliebt sich in sie. Während Kestner den Umgang seiner Braut mit Goethe geduldet und auch gefördert hatte, stößt Goethe nach Maximilianes Heirat auf brüske Ablehnung ihres Ehemanns Peter Anton BrentanoBrentano, Peter Anton (1735–1797). Das Bild Lottes im Roman setzt sich also aus Goethes Erfahrungen mit Charlotte Buff und mit Maximiliane Brentano, geb. von La Roche, zusammen.
Karl Wilhelm Jerusalem hatte große Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. Außerdem liebte er die Frau des Pfalz-Lauternschen Gesandtschaftssekretärs, ohne dass diese Liebe aber erwidert wurde. Jerusalem lieh sich von Kestner Pistolen und erschoss sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772. Kestner berichtet kurz danach am 2. November 1772 Goethe in einem Brief ausführlich über Jerusalems Selbstmord.1 Im Werther überlagern sich also eigene Erfahrungen und Sehnsüchte des Autors mit Beobachtungen und Berichten Dritter und konstituieren so die fiktiven Figuren von Werther, Albert und Lotte. Im Roman selbst ein ausschließlich autobiografisches Zeugnis sehen zu wollen, erklärt nicht die enorme Resonanz, die der Werther -Roman nach seinem Erscheinen erfahren hat.
Anfang Februar 1774 beginnt GoetheGoethe, Johann Wolfgang mit der Arbeit am Roman. Will man seiner Darstellung in Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit Glauben schenken, dann hat er das Manuskript innerhalb von vier Wochen niedergeschrieben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 28, S. 224). Von der Handschrift der ersten Fassung sind lediglich zwei einzelne Blätter erhalten, die Entstehungszeit wird auf Februar bis Mai 1774 datiert. Im Mai 1774 schickt er das Manuskript an den Verleger WeygandWeygand, Johann Friedrich in Leipzig. Schon zur Michaelismesse im September 1774 erscheint der WertherDie Leiden des jungen Werthers . In der Forschung wird vermutet, dass für die „zweyte ächte Auflage“2 des Romans von 1775 nochmals das heute nicht mehr erhaltene Druckmanuskript zu Rate gezogen werden konnte. In dieser Ausgabe finden sich auch erstmals die zusätzlichen Zeilen in Werthers Brief vom 13. Juli 1771: „Mich liebt! – Und wie werth ich mir selbst werde, wie ich – dir darf ich’s wohl sagen, du hast Sinn für so etwas – wie ich mich selbst anbethe, seitdem sie mich liebt!“3 Diese Zeilen, die im Erstdruck also fehlen, sind möglicherweise unabsichtlich weggelassen worden. Eventuell handelt es sich um einen Abschreibfehler des Kopisten der Handschrift oder um ein Versehen des Setzers. Der Begriff der Haplografie, der in diesem Zusammenhang von Fischer-Lichte und ihr folgend von der Frankfurter Ausgabe verwendet wird, ist allerdings irreführend. Letztlich sind diese Plausibilitätsüberlegungen nicht zu belegen. „Ganz ausgeschlossen ist es jedoch nicht, daß die Zeilen absichtlich getilgt wurden; jedenfalls liegt die Vermutung nahe, daß Lavater bei der Lektüre der Druckbogen […] Anstoß an der Formulierung nahm: ‚wie ich mich selbst anbete‘ [!]“4. Am 30. Dezember 1781 bittet Goethe Charlotte von SteinStein, Charlotte von (1742–1827) um ein Exemplar seines Romans, er selbst ist nicht mehr im Besitz des Buches (vgl. die Briefe vom 21. November 1782 an KnebelKnebel, Karl Ludwig von, vom 2. Mai 1783 an KestnerKestner, Johann Christian, vom 24. Juni 1783 an Charlotte von Stein, vom 15. August 1785 an den Herzog und vom 25. Juni 1786 an Charlotte von SteinStein, Charlotte von).
Seit 1781 überlegt sich GoetheGoethe, Johann Wolfgang also eine Überarbeitung des Werthers , die erst 1786 abgeschlossen ist. Als sein Verleger Georg Joachim GöschenGöschen, Georg Joachim (1752–1828) eine Ausgabe von Goethes Werken plant, soll der WertherDie Leiden des jungen Werthers als erster Band diese Ausgabe eröffnen. Somit ist der äußere Anlass, sich mit dem Werther im Hinblick auf eine erneute Drucklegung nochmals zu beschäftigen, für Goethe durchaus gegeben. In das Lotte-Bild der Zweitfassung fließen denn auch Goethes Erfahrungen mit Frau von Stein während dieser Umarbeitungsphase ein.
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