Nichts.
Er wiederholte das Signal. Nun hörte er, wie ein kleines Kind auf der anderen Seite der Tür zu weinen begann.
Schritte eilten herbei.
Die Tür wurde entriegelt … und geöffnet.
Die Frau, die durch den Türspalt lugte, runzelte ungläubig die Stirn. »Hieronymus Holstein?«
»Elsbeth Fränkel«, entgegnete dieser mit einem Lächeln ob der gegenseitigen Bekanntgabe ihrer Namen.
Die blond gelockten Haare völlig zerzaust und nur in ein einfaches helles Leinenkleid gehüllt, öffnete die Frau die große Flügeltür gerade weit genug, damit er eintreten konnte. Dennoch stellte sie sich mitten in den Weg.
»Was in aller Welt wollen S’ von mir?«
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen. Darf ich?«
Elsbeth prüfte mit schnellem Blick, ob sich außer Hieronymus noch andere Personen im Flur befanden. Dann winkte sie ihn unwillig herein.
»Das Peterchen haben S’ auch aufgeweckt«, zischte sie und eilte zu dem Kleinkind, das in eine wollene Decke gewickelt auf einem Sessel lag. Liebevoll nahm sie es in den Arm und wiegte es.
Hieronymus schloss die Tür. »Ich wollte Ihnen kein Ungemach verursachen, Frau Fränkel«, sagte er und meinte es auch so.
»Das wollten S’ das letzte Mal auch nicht, und schauen S’ mich an. Der Wilhelm hat sich seither nicht mehr blicken lassen. Oppenheim hat sich in seiner Zelle erhängt, der wird also in naher Zukunft auch keine Gesellschaften mehr veranstalten. Frau Barbara musste ich auf zwei Tage die Woche beschränken, an denen ich schauen muss, wie ich das Geld für die restliche Woche aufstelle. Erzählen S’ mir also bitte nichts von dem, was Sie wollen, wenn sich doch alles zum Argen wandelt.«
Kraftlos setzte sie sich auf den Sessel, wischte sich trotzig die Tränen aus den Augen. Sie wirkte übermüdet, die üppigen Lippen rau, die unzähligen Sommersprossen auf Gesicht und Hals stumpf.
Hieronymus seufzte. Natürlich tat ihm die Frau leid, war er es doch gewesen, der sie erpresst hatte. Der sie erpressen musste, um seine eigene Haut zu retten. Dass sie dabei Schaden nehmen würde, hatte er zwar vermutet, aber hintangestellt.
»Umso anmaßender klingt dann wohl der Grund meines Besuchs«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber.
»Ich vermute, Sie brauchen etwas von mir?«
»So ist es, Frau Fränkel.«
»Werde ich danach noch tiefer fallen? Mich gar am Graben oder am Spittelberg feilbieten müssen?«
Hieronymus konnte ein Schmunzeln ob der Offenheit der Frau nicht zurückhalten. »Das müssen Sie mit Sicherheit nicht, mein Wort darauf.«
Elsbeth schnaubte verächtlich.
»Gerne werde ich Ihnen berichten, wie es dazu kam, dass es mich nach Wien verschlagen hat. Das Ausmaß meines Schmerzes, meiner Pein, die mich seit neun Jahren malträtiert.« Er hielt seine rechte Hand in die Höhe, an der der kleine Finger fehlte. »Und ich spreche nicht hiervon. Aber ich vermute, dass Sie das im Augenblick nicht wirklich interessiert.«
»Da haben S’ recht, tut es nicht«, sagte sie knapp und hart. Dann wurde ihre Stimme sanft. »Und doch freue ich mich, dass Sie es geschafft haben, Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Auch wenn dies gewissermaßen mein Verdienst war.«
»Da haben Sie recht, das war es.«
Elsbeth seufzte schwer. »Dann rücken S’ schon heraus damit. Was brauchen S’ diesmal?«
»An jenem Abend bei Oppenheims Soirée«, begann Hieronymus, »da tummelte sich eine illustre Schar an Gästen im Palais Rasumofsky.«
»Alles Herren der besseren Gesellschaft, die meinen –«, Elsbeth legte beide Hände auf die Ohren des nun schlafenden Kindes, »dass ihre Libido so groß und ihre Schwänze so hart sind wie ihre Bankkonten prall gefüllt. Was natürlich reines Wunschdenken ist.«
Hieronymus und Elsbeth teilten ein Lächeln.
»Sie verstehen es wahrlich, einem Mann den Kopf zu verdrehen«, meinte er und wurde wieder ernst. »Einer der Gäste war ein Böhme namens František Skorkovský. Er hat etwa mein Alter, rötliche Haare, groß gewachsen. Ein zackiger Mann, spricht mit kaum hörbarem Akzent.«
Elsbeths Blick wanderte im Raum umher, immer wieder verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. »František … František Skorkovský.« Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Der Name ist mir nicht geläufig. Ich kann mich nicht einmal an einen Herrn mit rötlichen Haaren erinnern.« Als sie Hieronymus’ Enttäuschung sah, fügte sie hinzu: »Aber seien Sie versichert, dass es mir aufrichtig leidtut.«
»Schon gut, es war einen Versuch wert«, meinte dieser mit gedämpfter Stimme. »Wie geht es dem kleinen Peterchen?«
Elsbeth hob die Decke vom Gesicht des Buben in ihren Armen. »Schauen S’ selbst. Er wächst so schnell, dass ich ihm dabei zuschauen könnt. Und jeden Tag schaut er seinem Vater ähnlicher, finden S’ nicht?«
Hieronymus schmunzelte ob der Anspielung auf Wilhelm Marx, Präsident der Wiener Polizei, einem glücklich verheirateten Mann mit einem außerehelichen Kind. Er selbst jedoch hatte, wie versprochen, dieses Geheimnis bewahrt, war es doch weder die Ausnahme noch eine Seltenheit. Beinahe jeder Dorfpfaffe könnte davon ein Liedchen singen, das wusste er.
»Ja, ganz der Herr Papa«, stimmte er der Mutter zu. »Apropos, ich werde wohl morgen bei besagtem Papa bezüglich meiner Suche nach diesem František vorstellig. Ich vermeine, es könnte nicht schaden, ihn darauf hinzuweisen, dass er sich ein wenig mehr um seinen Sohn bemühen sollte. Wenn schon nicht persönlich, so zumindest pekuniär?«
Elsbeth lächelte gütig, so wie Hieronymus sie zum ersten Mal getroffen hatte, damals im Café Central. »Das wäre eine schöne Geste von Ihnen.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, besann sich dann jedoch anders und schwieg.
Hieronymus stand auf. »Dann auf bald, Frau Fränkel.«
Sie begleitete ihn zur Wohnungstür. »Ja, auf bald.« Dann gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Und danke.«
Nachdem Franz und Camillo über drei Griasler, wie man Obdachlose hier nannte, geklettert waren, die eng aneinandergekauert auf einem groben Steinhaufen schliefen, waren sie in einen Stollen gekrochen, gerade groß genug, dass man die fünfzig Meter Länge auf allen vieren überwinden konnte.
Camillo hielt vor sich eine kleine Öllampe, die bei jeder Bewegung einen Schwall an Ruß ausstieß, wie eine Dampflokomotive, die anfuhr.
Daraufhin gelangten sie in einen Raum, aus Ziegeln gemauert, in dem zwar die Luft feuchtschwül drückte, der aber ansonsten einen reinlichen Eindruck machte.
»Ist die Küche«, erklärte Camillo, mit einem Stolz in der Stimme, als würde er durch Wiens Sehenswürdigkeiten führen. »Hier drin haben die Arbeiter, die den Kanal einst erbauten, ihre Mahlzeiten gekocht. Ist ein begehrter Schlafplatz, aber auch eine wahre Todesfalle. Denn bei Überschwemmung sammelt sich das Wasser hier drin bis zur Decke, bevor es in die Wien abfließen kann.«
Im angrenzenden Stollen, der nur marginal breiter war, mussten Franz und Camillo einen Schlafenden überklettern, der so tief schlummerte, als wäre er bereits tot.
Ein weiterer Raum, nur halb so hoch wie ein Mann, verschaffte den gebeugten Rücken der beiden Männer ein wenig Erholung, bevor es einen Schlauch zu durchklettern hieß. Einhundert Meter lang, leicht aufsteigend und nur passierbar, indem man auf dem Bauch vorwärtsrobbte.
Drei Pausen später, völlig außer Atem und in Schweiß gebadet hatte Franz Camillo schließlich eingeholt, der sich bereits den Rücken im nächsten Raum durchstreckte. »Der Schlauch geht uns allen am Arsch«, kommentierte er den Weg. »Aber was willst machen? Die Bauherren haben sicherlich nicht ins Kalkül mit einbezogen, dass hier einmal Menschen hindurch sollten.«
Franz war, als wäre er erneut von einem Fuhrwerk überrollt worden. Schulterblätter, Ellbogen und Hüfte schmerzten kolossal. Und der Schädel brummte ihm, als hätte er die Nacht durchgetschechert, was zwar stimmte, seinen Zustand schrieb er aber dennoch der schlechten Luft zu.
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