Bastian Zach
Donaumelodien –
Totentaufe
Historischer Kriminalroman
Der Tod ist ein Wiener Wien, Herbst 1876. Ein Serienmörder hält die Kaiserstadt in Atem. Seine Opfer sind Ärzte, allesamt haben sie vor zehn Jahren im Narrenturm gearbeitet. Der Geisterfotograf Hieronymus Holstein, der gerade eigentlich für seine Unterkunftsgeberin auf der Suche nach deren verschwundenem Ehemann ist, wird von Polizeipräsident Marx hinzugezogen. Holstein soll verdeckt im untersten sozialen Milieu ermitteln. Im Gegenzug würde er von Marx die Adresse von František erhalten, dem Bruder seiner tot geglaubten Liebe Karolína. Hieronymus sagt zu. Gemeinsam mit seinem Freund, dem „buckligen Franz“, begibt sich der Geisterfotograf auf die Suche nach dem Täter und muss bald feststellen, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Selbst das, was als richtig oder falsch erachtet wird, beginnt zu verschwimmen. Und als Hieronymus und Franz nach dem Leben getrachtet wird, wissen die beiden, dass sie auf sich allein gestellt sind. Sind sie etwa selbst ins Visier des Mörders geraten?
Bastian Zach wurde 1973 in Leoben geboren und verbrachte seine Jugend in Salzburg. Das Studium an der Graphischen zog ihn nach Wien, als selbstständiger Schriftsteller und Drehbuchautor lebt und arbeitet er seither in der Hauptstadt. 2020 wurde sein Krimi-Debüt „Donaumelodien – Praterblut“ für den Leo-Perutz-Preis nominiert. Wiens morbider Flair ist es auch, der ihn zu seinen Kriminalromanen inspiriert, und seine Liebe, Historie mit Fiktion zu verweben, lässt das Wien um die Jahrhundertwende wieder lebendig werden.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Graben_Wien_1900.jpg
Karte: Wienbibliothek im Rathaus,
Druckschriftensammlung, K-314355
ISBN 978-3-8392-6878-0
Für alle, die ich im Herzen tragen darf,
die sind und die waren.
Wien, 1876
»Was willst du noch von mir?«
Die Stimme des Mannes bebte vor Angst und klang, als erhoffte er sich keine Antwort. Stille folgte. Er sah an sich hinab. Man hatte ihn mit Lederriemen an jenen Stuhl gefesselt, in dem er eigentlich nur ein Glas Rotwein trinken wollte, so wie jeden Abend, bevor er zu Bett ging. Auf dass die Mühsal des Tagwerks von ihm abfiel und er innerlich zur Ruhe kam. Vielleicht hätte er durch das Fenster auf der anderen Straßenseite sogar noch die Silhouette jener Frau erspäht, die dort seit wenigen Wochen wohnte, zärtlich warm umrissen im Kerzenschein oder, wie er es sich zuweilen im Geiste ausmalte, gänzlich nackt im Lichtkleid.
Daran war nun nicht mehr zu denken. Sein Geist kreiste einzig und allein um die Frage, was der Eindringling von ihm wollte. Und ob er von ihm ablassen würde, bevor ihm Schlimmeres widerfuhr als ein paar kräftige Schläge auf Schädel und Wanst mit einem Ledergürtel und der daran befestigten Schnalle aus Messing.
»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß«, fügte er flehend hinzu.
»Aber ich habe noch gar nicht damit begonnen, dich zu befragen«, krächzte die Gestalt, die hinter ihm stand, wie ein Greis, der seine ohnehin schon raue Stimme verstellte, um Kindern damit schreckliche Angst einzujagen.
Der Mann begann zu weinen. »Nimm dir, was du möchtest, es sei alles dein. Aber ich bitte dich, hab Erbarmen …«
»Erbarmen?« Die Gestalt stutzte, spie dann das Wort förmlich aus. »Erbarmen! Dieser Begriff ist für mich bar jeder Bedeutung. Woher soll einer ihn auch kennen, wenn man ihn nie erfahren ließ, welcher Sinn ihm innewohnt?«
»Die Gnade des Herrn ist uns doch allen schon einmal widerfahren, gleich, welche Sünden wir begangen haben, oder nicht? Ich flehe dich an …«
»Ah! Gnade sagt mir etwas. Wie oft habe ich so gefleht wie du jetzt, habe gebettelt, geweint und –« Die raue Stimme brach ab.
Der Mann auf dem Stuhl verrenkte den Kopf nach hinten, versuchte, in der Finsternis des kleinen Raumes zu erkennen, was geschehen war. Ob seine Worte zu seinem Peiniger durchgedrungen waren?
Ein neuerlicher Schlag mit der Gürtelschnalle belehrte ihn jedoch eines Besseren.
»So habe ich es auch gelernt«, fuhr die Gestalt fort, während der Mann im Stuhl wimmerte und sich am Holzboden unter ihm eine gelbliche Lacke ausbreitete. »Gnade ist eine liebreizende Erfindung der Philosophen, der Denker und Schöngeister. Und all jener, die sich einen Vorteil daraus erhoffen. Der gemeine Mensch jedoch kennt sie nicht. Kannte sie noch nie. Weder im Glauben noch im Krieg und schon gar nicht in der Liebe.«
Die Gestalt legte eine Beißzange auf das hölzerne Tischchen, das neben dem Stuhl stand, die Hand mit einem schwarzen Handschuh aus Leder verhüllt.
»Was … was hast du mit mir vor?«
»Ich möchte, dass du dich, so inniglich du nur vermagst, darauf konzentrierst, was ich dich fragen werde. Und weil dabei jede Ablenkung ein Hindernis darstellt, will ich dir helfen, zumindest nur mehr halb so abgelenkt zu sein.«
Mit diesen Worten trat die Gestalt an den Mann im Stuhl heran. Sie stopfte ihm ein Stück Stoff so gnadenlos fest in den Mund, als wollte sie einer Mastgans einen Trichter in den Schlund rammen.
Dann fasste sie den Mann an der Stirn, drückte seinen Kopf nach hinten und stach ihm mit einem metallenen Dorn durchs linke Auge.
Bertrand war ein Knabe von zehn Lenzen und immer schon von froher Natur. Besonders aber, seit er vor knapp einem Jahr eine fein polierte steinerne Murmel gefunden hatte, die geheimnisvoll in den Farben Braun und Grün schimmerte. Seither war ihm nur noch Gutes widerfahren. Sein Vater hatte eine Anstellung bei einem wohlhabenden Adeligen in der Inneren Stadt gefunden, weshalb der Tisch immer reichlich gedeckt und seine Mutter bei bester Laune war. Sein jüngerer Bruder hatte sich von dem schweren Husten, der ihn geplagt hatte, erholt, und der Gemahl seiner älteren Schwester war von zwei Raufbolden von der Franzensbrücke in den Donaukanal geworfen worden, von wo er nicht mehr aufgetaucht war. Seither hatte ihr immerzu malträtiertes Gesicht keine Anzeichen mehr von blauen Flecken oder Platzwunden aufgewiesen.
Ja, das Jahr seit dem Murmelfund war ein glückliches gewesen, weshalb Bertrand das runde Kleinod seither immer sicher in der Tasche seiner Joppe verstaut bei sich trug. Gerade hüpfte der Junge die Johannesgasse Richtung Stadtpark hinunter, als er mit Zeigefinger und Daumen eine merkwürdige Unebenheit auf der ansonsten spiegelglatten Oberfläche der Kugel verspürte. Er blieb stehen, sah sich sorgsam um, ob kein Fuhrwerk oder sonstiges Vehikel seinen Weg zu kreuzen drohte, und holte die Murmel hervor. Voll Sorge besah er sich die Unebenheit, versuchte, mit seinen abgeschundenen Fingernägeln den Schmutz zu entfernen – vergeblich. Also nahm er die Kugel in den Mund und begann, vorsichtig an ihr zu lutschen, als wäre sie eine Kirsche, die man noch nicht zerbeißen mochte. Und tatsächlich, wenig später schien die Unebenheit verschwunden zu sein. Bertrand wollte gerade noch einmal mit der Zunge die Vollkommenheit der Kugel prüfen, als ihn so ein Haderlump grob anrempelte – und er vor Schreck einatmete.
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