Am Ende der Stiege machten die beiden Männer eine Verschnaufpause. Da merkten sie, wie jemand an Franz’ Joppe zupfte – ein blonder Bub, die Mütze schief auf dem Kopf, die Wangen voll Kohlestaub, unter der Nase Rotz.
»Sie suchen den Jakub?«, fragte er mit herausfordernder Stimme.
Franz lächelte. »Das tue ich.«
»Sie stottern ja gar nicht mehr.«
Schau an, dachte sich Hieronymus, so ein Wiffzack 16. »Ist bei dem da nur zeitweilig«, sagte er mit einem Zwinkern. »Also, was weißt du über Jakub?«
Der Junge zuckte mit den Schultern, wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so selbstbewusst. »Meine Schwester hat mit ihm ein kleines Pantscherl 17gehabt, heuer um die Weihnachtszeit war das. Da war er auch öfters zu Besuch bei uns. Und jedes Mal hat er mir ein Semmerl mitgebracht.«
»Ein Semmerl? Scheint ein netter Kerl zu sein.«
Wieder zuckte der Junge mit den Schultern. »Seit meine Schwester krank geworden ist, hat er sie nicht mehr besucht. Aber es geht ihr schon wieder besser.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Franz und hockte sich zu dem Buben. »Du weißt nicht zufällig, wo ich diesen Jakub finden kann?«
»Vor zwei Wochen habe ich ihn gesehen, gemeinsam mit einem anderen Mann. Sie haben abwechselnd aus einer Flasche getrunken, haben gegrölt und gelacht und sind dann zu den Strottern 18runtergestiegen.«
»In die … Kanalisation?«, entfuhr es Hieronymus.
Der Bub deutete Richtung Karlsplatz. »Dort drüben sind sie bei einem der Kioske eingestiegen, wo es nach unten geht.«
Franz und Hieronymus teilten einen vielsagenden Blick. Dann drückte Franz dem Jungen einen Gulden in die schmutzige Hand. »Danke. Kauf davon dir und deiner Schwester was zu essen.«
Der Junge grinste schelmisch, dann lief er davon.
»Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt?«
Hieronymus zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Aber zwei Männer, die sich gemeinsam einen ansaufen … Das klingt sehr wohl nach Leoš.«
Franz pflichtete ihm bei. »Im Ratzenstadl ist er nicht, dafür bei den Strottern? Klingt, als käme er vom Regen in die Traufe. Ich bringe es aber auch nicht übers Herz, Anezka anzulügen, wir hätten keinen Erfolg gehabt.«
»Die Kanalisation unter Wien ist wie eine Stadt in der Stadt. Und die Strotter halten zusammen wie Pech und Schwefel, zumindest heißt es das. Es wird verdammt schwierig, auch nur irgendwen dort zu finden, zumal alle, die da unten leben, nicht gefunden werden wollen.«
»Ich gehe.« Franz strich sich die spärlichen grauen Haare am Kopf glatt, als würde er sich für einen gewichtigen Besuch zurechtmachen. »Wegen meinem Buckel brauch ich mich zumindest nicht zu bücken.«
»Das wird keine leichte Aufgabe, mein Freund. Und niemand hier oben wird dir helfen können, solltest du auf Schwierigkeiten stoßen.«
»Du meinst, ich kann dir nicht zu Hilfe eilen, wenn du wieder einmal in Schwierigkeiten steckst?«
»Ja.« Hieronymus grinste. »Oder so herum.«
»Was wirst du machen?«
»Ich werde mein Glück erneut am Schlickplatz versuchen und nach Karolína Ausschau halten. Wie schon so oft zuvor.«
»Tu das. Aber lass uns erst noch bei dem Wirtshaus da drüben die Wampe vollschlagen. Danach steig ich hinunter. Einverstanden?«
»Einverstanden«, meinte Hieronymus und sie machten sich auf den Weg. »Vielleicht zum Abschluss noch ein bekömmliches Schnapserl?«
Die rot unterlaufenen Augen und der strafende Blick des anderen waren Antwort genug.
12Alter Ausdruck für »Baulücke«.
13Eine bis ins 19. Jahrhundert gängige Bezeichnung für die serbische
Bevölkerung in der Habsburgermonarchie.
14Wienerisch: Gejammer.
15Wienerisch: »voll im Öl« = volltrunken.
16Wienerisch: schlauer Mensch.
17Wienerisch: Liebelei.
18Menschen, die in Abfällen nach Verwertbarem umherstöbern.
Hieronymus lehnte an der Ecke eines Hauses und beobachtete ruhig das Getümmel, das ihn umgab. Der Schlickplatz war voll geschäftiger Menschen, die von hier zum Franz-Josefs-Bahnhof eilten oder in die andere Richtung, zum Schottenring, und sich den Platz mit Fuhrwerken und Karren teilten. Alles überragend war die Fassade der Roßauer Kaserne, ein festungsähnlicher Bau aus roten Ziegeln, der erst sechs Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Die beiden Türme, die acht Stockwerke in den Himmel ragten und mit Zinnen bekrönt waren, ließen keinen Zweifel aufkommen, dass dies ein Bollwerk gegen jegliche Art von Feinden der Monarchie darstellte.
Doch wie an so vielen Tagen zuvor konnte Hieronymus auch heute nicht erspähen, was er dereinst zu erspähen geglaubt hatte – das liebliche Antlitz seiner Karolína. Jener großen Liebe, die er seit neun Jahren tot geglaubt hatte, und bei der er sich doch seit ihrem, wenn auch nur kurz erhaschten, Anblick sicher war, dass sie lebte.
Auch hatte er in den letzten Wochen versucht, ihren Bruder František Skorkovský aufzuspüren, dessen zufällige Bekanntschaft er auf der Soirée Ludwig Oppenheims gemacht hatte. Doch auch dieses Unterfangen hatte sich als erfolglos erwiesen. So konnte er nur hier stehen und hoffen.
»Ganz allein, mein Hübscher?«, umgarnte ihn eine weibliche Stimme.
Hieronymus spürte, wie eine Hand die seine sanft berührte. Gleich darauf sah er sich einer Frau gegenüber, die sein Alter haben musste, wenngleich er hoffte, nicht ein derart verlebtes Bild abzugeben. Ihre Schminke hatte sie viel zu stark aufgetragen, eine leicht verzweifelte Nuance umspielte ihr gekünsteltes Lächeln.
»Nein danke«, winkte Hieronymus ab.
Der Gemütszustand der Hübschlerin änderte sich schlagartig. »Du hast doch keinen Schimmer, was dir entgeht, du grober Lackel 19.«
»Und ich will es auch nicht wissen.«
»Na, ich sag dir jetzt was: Du gibst mir zwei Gulden oder ich schrei hier vor allen Leuten, dass du mich begrapscht hast.«
Hieronymus spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg, gepaart mit dem Verlangen, die dreiste Nymphe mit mehr als nur Worten zurechtzuweisen. Doch er beherrschte sich. Zu unvorhersehbar wären die Folgen einer solchen Auseinandersetzung.
»Hör gut zu«, sprach er so leise, dass sich die Frau zu ihm beugen musste. »Da drüben ist die k.k. Polizei-Direction, und ihr Präsident, Wilhelm Marx, ist ein Bekannter von mir. Wennst also meinst, du musst hier ein Bahöl machen, dann tu das. Gerne werde ich der Sicherheitswache erklären, wer hier wen abgetatschkerlt 20hat. Und jetzt schleich dich.«
Die Hübschlerin schien einen Augenblick abzuwägen, ob der andere es ernst meinte. Dann spuckte sie zu Boden und verschwand in der Menge der Passanten.
Während Hieronymus ihr noch nachblickte, wälzte er die Überlegung, warum er nicht tatsächlich beim Präsidenten der Polizei vorstellig werden sollte, um diesen zu bitten, ihm bei der Suche nach Karolínas Bruder behilflich zu sein. Immerhin könnte er ihm Einsicht in die Register der melderechtlichen Erfassung gewähren. Nicht, dass ihm dieser nach dem Vorfall im Prater noch etwas schuldig wäre, aber ein Versuch konnte wohl nicht schaden …
Franz fluchte leise. Die eiserne Tür am Kiosk, einem achteckigen mannshohen Turm mit schrägem Dach, war abgesperrt. Auch wenn ihn kaum einer der Passanten, die am Karlsplatz unterwegs waren, beachtete, so wusste er, dass er die Tür nicht einfach mit roher Gewalt aufreißen konnte. Mit der rechten Hand kramte er in der Tasche seines Mantels, bis er gefunden hatte, wonach er suchte – einen Dietrich.
Er setzte den Sperrhaken ins Schloss, drückte, zog und drehte nach Gefühl, bis das Schloss mit einem Klacken aufsprang.
»He, du da!«, ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes. Franz fuhr herum, erblickte aber anstelle eines Wachmannes ein junges, teuer gekleidetes Pärchen. »Der Präuscher hat telegrafiert. Er will seinen Buckel zurück!«
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