In der gewöhnlichen (rechtshändigen) Praxis des Kundalini-Yoga besteht das Ziel darin, das Sahasrara-Chakra über dem Kopf zu aktivieren. Aus der Perspektive des linkshändigen Pfades scheint der eigentliche Punkt aber lediglich darin zu liegen, die Schlangenkraft zum sechsten oder Ajna-Chakra („Kommandozentrum“) und von dort in die drei verborgenen Chakren zu leiten. Diese drei verborgenen Chakren Golata , Lalata und Lalana liegen tief in der Kehle am Zäpfchen bzw. am weichen Gaumen. Der Aghori oder Tantriker des linkshändigen Pfades will keinesfalls mit dem Sahasrara eins werden, in dem jede Unterscheidung zwischen diesem und jenem, „Ich“ und „Nicht-Ich“ oder „Ich“ und „Du“ aufhören würde, da es dann, wie Vimalananda sagen würde, keine Freude mehr gäbe.
Vamacharins sind auch noch gegenwärtig dafür bekannt, dass Praktiken pflegen, die von eher orthodoxen Dakshinacharins als schändlich angesehen werden. Von den Aghora-Sekten beispielsweise sind Akte der Nekrophilie und des Kannibalismus bekannt. Diese und andere Praktiken werden nicht um eines perversen Vergnügens willen begangen, sondern sie hängen eher mit tiefverwurzelten kulturellen und religiösen Tabus zusammen. Indem diese gebrochen und die Grenzen von Gut und Böse überschritten werden, erklimmt der Aghori neue Stufen der Kraft und der „Befreiung“ (von seinen menschlichen Beschränkungen).
Der Begriff „Aghora“ bezeichnet im literarischen Sinne den „Furchtlosen“, und diese Eigenschaft wird mit dem südlichen Antlitz des fünfgesichtigen Shiva gleichgesetzt. Dieses Gesicht ist von schwarzblauer Farbe und verkörpert das Prinzip des Intellekts ( Buddhi Tattva ) oder des ewigen Gesetzes ( Dharma ).57
Weiter verbreitet als diese extremen Ausprägungen sind freilich die gemäßigteren Praktiken der sexuellen Mystik. Viele von diesen sind dazu gedacht, sexuelle und andere gesellschaftliche Tabus oder auch solche der Ernährungsgewohnheiten zu überwinden. Das Wort „Tantra“ wird im Westen seit den ersten populären Behandlungen dieser Thematik in den sechziger und siebziger Jahren synonym mit „Sexualmagie“ verwendet. Zur tantrischen Tradition gehört weitaus mehr als Sexualmystik, aber vor allem die linkshändigen Tantriker üben tatsächlich sexuelle Rituale als Bestandteil ihrer Praktiken aus.58
Die wichtigste Form der Sexualmystik ist in einem Ritus enthalten, den man Panchamakara (fünf Ms) nennt. Er wird im Kalivilasa-Tantra (X-XI) beschrieben, aber dort wird die Warnung ausgesprochen, dass er nur mit initiierten Frauen praktiziert werden darf. Die „fünf Ms“ beziehen sich auf die fünf Elemente, aus denen dieses Ritual besteht und deren Sanskritnamen alle mit dem Buchstaben „M“ beginnen: Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch), Madya (berauschender Trank), Mudra (Getreide) und Maithuna (Geschlechtsverkehr).
Auf dem rechtshändigen Weg wird gewöhnlich auf einen Ersatz zurückgegriffen: auf Räucherwerk, Essen, Sandelholz, eine Lampe und Blumen. In jedem Fall aber besteht eine reguläre Korrespondenz zu den fünf klassischen hinduistischen Elementen oder Tattvas : Äther, Wasser, Erde, Feuer und Luft.
Bei einer typischen Übung des Panchamakara des linkshändigen Pfades werden die beiden Feiernden der vier essbaren Aspekte teilhaftig, bevor sie zu einer sexuellen Yoga-Praxis übergehen. Diese Elemente wurden als Aphrodisiaka beschrieben, und sie werden gewöhnlich als tabuisierte Substanzen angesehen (die aus orthodox-hinduistischer Perspektive generell als profan gelten), jedoch sakralisiert durch geistige Disziplin und tantrische Praktiken. Mit anderen Worten: Die in das Panchamakara einbezogenen Substanzen und Handlungen hält man gemeinhin für Mittel zur Fesselung und deshalb für alles andere als zur Befreiung geeignet, aber wer den linkshändigen Pfad beschreitet, verwendet diese Stoffe und Erfahrungen, um die Kundalini-Energie zu wecken, und wird nicht selbst von ihnen beherrscht.
Eine weitere bedeutsame Spielart der Sexualmagie ist ein als Chakra Puja („Feier im Kreis“) bekannter Ritus. Eine ganze Gruppe von Tantrikern nimmt dabei an einem sexuellen Ritual teil, bei dem sich Männer und Frauen durch Zufall paaren. Eine Weise, wie dies vonstatten geht, besteht darin, dass die Frauen ihre Gewänder in einen Korb ( Choli ) werfen, aus dem dann jeder der Männer ein Kleidungsstück herausnimmt. Die Frau, der das Kleid gehört, wird in der nächsten Nacht die rituelle Partnerin des jeweiligen Mannes werden – sei sie seine Ehefrau, Schwester, Mutter oder was immer. Die Teilnehmer sitzen alle im Kreis, wobei Männer und Frauen einander immer abwechseln und der Mann seine Partnerin stets zu seiner Linken hat. Möglicherweise liegt hierin der Ursprung des Begriffs „ links händiger Pfad“; auf jeden Fall zeigt sich hier der Zusammenhang zwischen Frau und linker Seite. In der Mitte des Kreises befindet sich ein – meist sehr junges – Mädchen, das von dem Priester, der die Zeremonie leitet, Huldigungen erfährt. Das Ritual dauert mehrere Stunden und endet in einer gemeinsamen Panchamakara.59
Dieses und andere ähnliche tantrische Rituale dürfen nicht so einfach und oberflächlich interpretiert werden, wie es zunächst naheliegen könnte. Offenkundig liegt ein wichtiges Element ihres Funktionierens in der Idee des Antinomismus: in der Heiligung des Profanen. Aber der Aspekt erotischen Vergnügens, der deutlich aus fortgeschrittenen Praktiken spricht, scheint darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um ein durchgängiges Merkmal handelt. Das ursprüngliche Motiv einer magischen oder psychologischen Verwandlung mag in der Überwindung von Hemmungen und dem Bruch konventioneller Tabus gelegen haben, aber wenn dieses Stadium einmal überwunden ist, werden die Handlungen in einem neuen und resakralisierten Sinne fortgesetzt. Der Bruch verhältnismäßig leicht überwindbarer sexueller Tabus und Essverbote könnte auf die Praktiken weitaus extremerer Sekten verweisen, die erheblich stärkere Tabus zu brechen suchen. Einige dieser Sekten interpretieren die fünf M’s so, dass eigentlich Meha (Urin), Mamsa (Menschenfleisch), Mala (Ausscheidungen), Medha (Saft, d. h. Blut) und Mehana (Penis, d. h. hier Samen) gemeint seien. Es gibt andere, die – gleichsam als entgegengesetztes Extrem, der beiden Pole oder Schulen innerhalb des linkshändigen Pfades entsprechend – die „fünf Grundlagen“ ( Panchatattvas ) nicht als fleischliche Realitäten, sondern als spirituelle Symbole auffassen. Stets aber scheint das verbindende Moment die Idee einer nietzscheanischen „Umwertung aller Werte“ zu sein. Grenzen werden überschritten, soziales und psychologisches Chaos wird erzeugt, aus dem eine neue und erneuerte, verwandelte und wiederbelebte Ordnung, dem Willen des Tantrikers gemäß, erwachsen soll.
Allgemein heißt es, der Tantriker des linkshändigen Pfades sei in der Lage, Gifte – vielleicht symbolisch für Substanzen gesehen, die sich hemmend auf die Befreiung auswirken – zu sich zu nehmen und damit durchweg heilsame Ergebnisse zu erzielen. Dieses wurde dadurch möglich, dass der Tantriker zu [einem] Shiva geworden ist, das heißt, dass er sein wirkliches Selbst oder seine Seele ver wirk licht hat und nun Shivas Kraft besitzt, alles, was er zu sich nimmt, in amrita umzuwandeln (den heiligen Nektar der Unsterblichkeit oder des Nicht-Todes).60 Das magische Prinzip, jedwede Substanz oder Erfahrung so zu transformieren oder zu „reinigen“, dass sie den Zwecken und dem reinen Willen des Magiers dient, ist typisch für alle Ebenen des linkshändigen Pfades.
Eine andere wichtige Vamachara-Technik, welche die Umkehrung von Normen oder natürlichen Neigungen beinhaltet, ist die Kontrolle des Samenflusses. Oberflächlich betrachtet, scheint diese nur eine von vielen magisch-technischen Übungen und damit für diese Untersuchung von untergeordneter Bedeutung zu sein. Doch das dahinter liegende Grundprinzip – wenn nicht gar die philosophische Perfektion oder wahrhaft gegenständliche Wirksamkeit – ist eine wichtige Aussage des linkshändigen Pfades.
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