In seiner Erörterung des Kulavana Tantra weist Evola darauf hin, dass die Arbeit eines Vira auf seinem Weg, ein Divya zu werden, in der Reinigung seines Willens besteht ( Icchashuddhi ). Diese Reinheit wird als nackt, transzendent, fähig zur Selbstbestimmung, jenseits aller einander entgegengerichteten Werte und Gegensatzpaare charakterisiert. Während der Ausübung von Icchashuddhi sollen die folgenden acht Fesseln systematisch zerrissen werden: daya (Sympathie), moha (Täuschung), lajja (Scham oder der Begriff von Sünde), bhaya (Furcht), ghrina (Abscheu), kula (Familie, Verwandtschaft, Clan), varna (Kaste) und sila (gewohnte Sitten und Anschauungen).46 In dem Maße, in dem diese Fesseln abgeworfen werden, wächst die Freiheit des Vira.
Wie wir später in Kapitel 9 sehen werden, weist diese Technik des Icchashuddhi in vielerlei Hinsicht auf Anton LaVeys Weisung an seine Anhänger voraus, den „sieben Todsünden“ des Christentums zu frönen : Habgier, Stolz, Neid, Zorn, Völlerei, Begierde und Faulheit – um sich dadurch selbst ganz ähnlich von den Prägungen der modernen westlichen Zivilisation zu befreien.47
Der Grund, warum solche Techniken als effektiv für die Praxis des Hinduismus angesehen werden, liegt zum Teil darin, dass wir heute in dem als Kali Yuga bezeichneten Zeitalter leben: in einer Epoche der Weltgeschichte, die durch Materialismus und fehlendes Interesse an spirituellen Angelegenheiten gekennzeichnet ist. In einem solchen Zeitalter „kann allein die Leidenschaft, wenn sie zielführend eingesetzt wird, Egoismus, Hochmut und schnöde Berechnung überwinden. Sie allein hat die Kraft, den Menschen aus den Fängen, die ihn an seine Neigungen und Überzeugungen fesseln, zu befreien.“48
Die eigentliche Bedeutung des Antinomismus liegt darin, inwiefern er sich auf die individuelle Seele (Jivatman) und deren Transformation in ein göttliches Wesen bezieht. Sie hängt mit der Einheit der Persönlichkeit mit ihrer personalen Göttlichkeit, dem Jivatman selbst, zusammen. Die Begrenzungen oder Fesseln schränken das Selbst (Jivat) sowohl innerlich als auch äußerlich ein. Eine Verbindung des Selbst mit dem Jivatman ist so lange unmöglich wie die acht Fesseln den Willen des Vira einengen.
Obwohl nichts davon im tantrischen Kontext mit schlichtem „Egoismus“ gleichzusetzen ist, kann ein Element eines „göttlichen Egoismus“ in der Lehre wahrgenommen werden, dass das westliche – rote und Vamadeva („linkshändige Gottheit“) genannte – Gesicht Shivas gleichgesetzt wird mit „Ichheit“, dem Ahamkara , das mit Feuer, Sicht und Tätigkeit assoziiert wird.49
Ein solcher radikaler Individualismus ist für den linkshändigen Pfad charakteristisch. Svoboda bemerkt, dass die Suchenden „versuchen sollen, ihren Drang nach Individuation von Maya [Bewusstlosigkeit/Objektivität] Richtung Chit [Bewusstsein/Subjektivität] zu leiten, “ und sich nicht erlauben dürfen, weiterhin mit dem Strom ihres Lebens oder dem des Lebens ihrer Nachbarn zu schwimmen.“50 Weiterhin stellt er fest: „Aghoris [Anhänger der linkshändigen Aghora-Tradition] gestatten sich niemals, eine passive Begrenzung ihrer äußeren Umgebung zu dulden; sie nehmen selbst die Begrenzungen vor und definieren dabei ihre Umgebung.“51 In gewisser Weise an das kosmo-psychologische System von G.I. Gurdjeff (das wir in Kapitel 8 behandeln) anknüpfend, behauptet Svoboda außerdem:
Wir alle sind Teile des Universums, wie es sich manifestiert, und sind seinen Gesetzen solange unterworfen, bis wir die Kraft entwickelt haben, uns selbst in anderen Begriffen neu zu definieren. Ein Tantriker strebt danach, sva-tantra (‚aus sich heraus gestaltend’), frei von allen Begrenzungen, einschließlich denen der eigenen Persönlichkeit, zu werden.52
Bemerkenswert ist der kreative Aspekt der Praktiken des linkshändigen Pfades in vielen Schulen auf der ganzen Welt und zu jeder Zeit. Den linkshändigen Pfad zu gehen, heißt nicht einfach, ein „Programm“ festzulegen und diesem gemäß zu arbeiten. Auf dem Weg nach links verehrt man nicht einen Gott, sondern schafft Göttlichkeit aus einer subjektiven Perspektive . Hinsichtlich der Entwicklung der Lehren innerhalb der Aghora-Schule sagt Svoboda: „Vorschriften [sind] nicht in Steintafeln graviert, sondern in das Herz des jeweiligen Praktizierenden, der sie anwenden muss, um ein individuelles System hervorzubringen, indem er sich seine eigene spirituelle Nische meißelt.“53
Insbesondere für Männer schließt der Antinomismus den Drang nach der „Verehrung“ einer Göttin ein. Der Vamacharin huldigt der Göttin aber nicht einfach in der Gestalt einer Frau, sondern versucht selbst, eine Frau zu werden . Dies kann seine Wurzeln in einer historischen Entwicklungsstufe haben, auf der Männer die priesterliche Funktion von Frauen übernahmen und daher „Frauen werden“ mussten, um diese Aufgabe mit einer zeitlosen Autorität auszufüllen. Belege für diese Vermutung können in solchen Kultpraktiken gesehen werden, bei denen Priester anläßlich bestimmter Riten Frauenkleider tragen, oder in den Mythen und Legenden, die von Männern handeln, welche sich in Frauen verwandeln.54 Auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe mag dies zutreffen; gleichwohl zeigt sich hier ein grundlegendes und ewiges, überzeitliches Prinzip, das sich in jenen Praktiken und Glaubensvorstellungen spiegeln mag. Gemäß der indischen (und möglicherweise auch der indoeuropäischen) Weisheit wird die „Struktur“ oder das Wesen eines subtilen oder spirituellen Körpers, der mit dem physischen Körper verbunden und in ihm enthalten ist, als weiblich angesehen (zumindest bei Männern). Mit anderen Worten: In jeder Person befindet sich eine spirituelle Wesenheit des entgegengesetzten Geschlechtes. (In der persischen Tradition kommt dieses Prinzip in Gestalt der Fravashis zum Ausdruck und in Skandinavien in den Fylgjur , Hamingjur usw. – nicht zu reden vom Begriff der Anima in der sehr einfühlsamen modernen Psychologie von C.G. Jung.) Wir können im indischen Denksystem auch zahlreiche technische Details kennenlernen, wie und warum dies so ist. Von den sieben größeren Padmas (Lotusblüten) oder Chakras (Rädern) wird gesagt, dass sie die sieben Wohnsitze des Weiblichen in jedem menschlichen Wesen seien: jeder von ihnen ist der Sitz einer Shakti (Kraft) von zweifellos weiblicher Natur.55 Indem er diese Shaktis erweckt und die Padmas oder Chakras (durch die Kraft des – ebenfalls weiblichen – Kundalini [Schlangenkraft]) aktiviert, verwandelt sich der Vamacharin allmählich (oder auch schnell) selbst in seine innere Göttin und „wird eine Frau“. Er unterzieht sich einer Transformation in sein „Gegenteil“.
Vor dem Hintergrund des linkshändigen Pfades benennt der Avhori-Weise Vimalananda das Ziel des Kundalini-Yoga als Wiedervereinigung von Shiva und Shakti, um Shiva in seiner ewigen Gestalt (als Sadashiva) wieder zu erschaffen: „Sadashivas linke Seite ist weiblich, und seine rechte Seite ist männlich; die beiden Prinzipien haben sich vereinigt, aber sie sind nicht ineinander übergegangen. Hätten sie sich vermischt, wäre dies das Ende des Spiels [Lila], und dies wäre durchaus keine Freude mehr.“56 Es ist hier mit Bedacht festzustellen, dass Vimalananda sehr genau zwischen Vereinigung [ union ] und Vermischung [ merger ] differenziert. Der Grund für seinen Wunsch, eine Vermischung beider Prinzipien letztlich zu vermeiden, liegt in der Freude , die er verlieren würde, wenn dies einträte.
Die wesentliche Grundlage dafür, dass die Kundalini-Shakti (Schlangenkraft) im Körper wachsen kann, liegt in der Fähigkeit, die gewöhnlichen oder üblichen (d. h. natürlichen) Strömungsmuster der körperlichen Kräfte umzukehren . Die Prana -Energie, die gewöhnlich aufwärts und in den Körper hinein fließt, wird veranlasst, abwärts und hinaus zu fließen, und die Apana -Energie, die normalerweise abwärts und/oder hinaus fließt, wird gezwungen, aufwärts oder hinaus zu strömen. Wenn beide sich, dem Paradigma ihres üblichen Fließens entgegenlaufend, treffen, beginnt Kundalini-Shakti zu entstehen, und man sagt, dass sie sich „küssen“. Es ist hier offenkundig, dass sich der „Antinomismus“ des tantrischen Systems auch in den Bereich einer esoterischen Psychologie erstreckt.
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