Ich sagte, ich sei bei meiner Tante zu Besuch.
Das war eine glaubhafte Ausrede. Von jungen Debütantinnen wurde erwartet, dass sie ein ehrenhaftes, jungfräuliches, wohlbehütetes Leben im Schoße ihrer Familien führten. Diejenigen, die eine gute Partie machen wollten, hielten sich an die Spielregeln. Aber mich interessierte das nicht. Ich hatte andere Pläne.
„Meine Eltern haben uns morgen Abend zum Abendessen ins Maxim eingeladen“, sagte Hubert und nahm meine Hand. „Bist du frei?“
„Ja“, sagte ich, „ich würde mich freuen.“
Das Maxim war das eleganteste Restaurant in ganz Paris. Warum diese Einladung? Was wäre, wenn es ein erster Schritt in Richtung eines Heiratsantrags wäre?
Einen solchen Antrag konnte ich keinesfalls annehmen, aus einem einfachen Grund: Ich war in jemand anderen verliebt: in Richard, meinen verrückten, wilden, unkonventionellen amerikanischen Maler und Flamencogitarristen. Jede Faser meines Wesens begehrte ihn. Eine Berührung seiner Hand jagte mir Schauer über den Rücken. Zwischen uns prickelte es immens. Doch er gehörte weder zu meiner Welt noch war die Leidenschaft, die er in mir entfesselte, in ihr erlaubt.
Der Chauffeur hielt vor dem Gebäude an der 52 Avenue Foch. Ich hatte Glück, denn dies war eine der schönsten Alleen in Paris. Es handelte sich offensichtlich um eine gute Adresse. Die Geschichte mit meiner Tante war durchaus überzeugend. Nach einer platonischen, aber zärtlichen Umarmung verließ ich den Prinzen und ging durch die imposante Haustür des Gebäudes in Richtung Aufzug. Ich stoppte und sah mich um. Die Straße draußen war leer. Huberts Auto war weg. Auf Zehenspitzen schlich ich zu einer Tür auf der Rückseite der Eingangshalle mit der Aufschrift „Porte de Service“ und trat in ein schmales, graues, eher schmutziges und unansehnliches Treppenhaus, das zu den Quartieren der Diener hinaufführte.
Die Treppe bis in den siebten Stock hochzusteigen ohne Aufzug, war eine gewisse Herausforderung. Ich trug ein langes weißes Ballkleid und ich musste unbedingt vermeiden, dass auch nur der kleinste Fleck auf die wogenden Falten des langen Rockes gelangte. Nichts durfte mein Geheimnis verraten.
Ich ging bereits ein großes Risiko ein. Ich sollte um Mitternacht zu Hause sein. Vater wartete wahrscheinlich schon auf mich, um sicherzugehen, dass ich pünktlich war. Unvorstellbar, ich käme zu spät nach Hause in einem weißen, beschmutzten Kleid.
Die Röcke raffend stieg ich die Treppe hoch, langsam und ohne das leiseste Geräusch. Mit jeder Stufe, die ich erklomm, schlug mein Herz schneller.
Wie immer beschlich mich das dumpfe Gefühl, „der Oger“, mein mächtiger, patriarchalischer Vater, der Hüter meiner Jungfräulichkeit, der wie ein Falke über die Aktivitäten seiner Tochter wacht, während er selbst viele Nächte damit verbrachte, Mädchen in meinem Alter zu verführen, schliche direkt hinter mir.
Ich war mir der Heuchelei der Welt, in der ich aufgewachsen war, schmerzhaft bewusst. Ich erlebte sie zu Hause, beobachtete, wie meine Mutter, die aufrechte, perfekt elegante Contessa, die Stellung hielt und die Ehre der Familie bewahrte, während mein Vater tagsüber die Rolle des tadellosen Diplomaten spielte, nur um bei Nacht zu einem wild Feiernden und Frauenhelden zu werden. Ich beobachtete, wie meine stolze, stille, pflichtbewusste Mutter nachts allein dasaß, die schnurrende Katze auf ihrer Brust, während mein Vater durch das Pariser Nachtleben tanzte. Das war der Moralkodex, nach dem sie lebten. So sollte es in einer Welt sein, die von mächtigen Aristokraten geprägt war. War ich bereit, dem Club beizutreten?
Mit jedem Schritt die Hintertreppe hinauf schien es mir, als würde ich die Tyrannei meiner gesellschaftlichen Klasse und die Unterdrückung des Patriarchats ein Stück weiter hinter mir lassen. Ja, ich hatte wie ein Gefangener in meinem eigenen Zuhause gelebt, nicht gesehen oder geliebt, für das, was ich war, sondern für das, was ich in der Schule leistete, wie ich mich anzog, wie perfekt ich die Rolle der „guten Tochter“ spielte und wie ich meine Aufgaben erfüllte. Das Leben bis dahin bestand aus einer langen Reihe von Regeln und sorgfältig erlerntem Verhalten, die als unsichtbarer Kodex der gesellschaftlichen Ordnung befolgt werden mussten. Ich kannte noch keine andere Welt, aber ich wusste, dass ich in dieser Welt nicht mehr gefangen sein wollte.
Vor mir lag das Unbekannte, das Versprechen auf ein neues Leben. Ich wurde von dem Gefühl getrieben, dass ich mich beeilen musste, dorthin zu gelangen, dass dieser Moment von größter Bedeutung war. Mit jeder Stufe, die ich erklomm, schien ich eine neue Welt voller Freiheit und Leidenschaft zu erobern.
Schritt für Schritt kletterte ich empor, die graue, verborgene Welt derer, die so hart arbeiteten, um dem Willen anderer zu dienen, hinter mir lassend. Ich umschlang mein Cinderella-Kleid und fühlte einen Schauer der Angst. Vielleicht würde ich am Ende einen hohen Preis für meine Freiheit bezahlen. Würde ich auf die Straße geworfen und dazu gezwungen werden, an einem solchen Ort zu leben, in einem winzigen Dachzimmer, ohne Geld?
Noch eine Stufe. Dann endlich, stand ich vor Richards Studentenwohnung. Ich öffnete die Tür und da stand er. Als ich ihn ansah, überflutete mich eine so große Freude, dass ich kaum aufrecht stehen konnte. Ihn zu sehen, war wie direkt in die Sonne zu blicken.
„Ich fühlte, dass du kommst!“, sagte er, öffnete seine Arme weit und umarmte mich. Ich bin nach Hause gekommen, sagte ich mir. Ich kann meine Sorgen ruhen lassen und die Herrlichkeit auskosten, geliebt, bewundert, angenommen zu werden, und ich kann all das von Herzen zurückgeben.
Richards winzige Wohnung war ein umgebautes Dienstmädchenzimmer – klein, aber hell. Ich war schon oft dort gewesen, um seine Gesellschaft zu genießen, seinen leidenschaftlichen Flamenco-Serenaden zuzuhören und mich in seinen Armen auszuruhen. Bis dahin hatten wir geflirtet und uns geküsst, aber ich hatte mich nicht ausgezogen und er hatte meine Grenzen respektiert.
Jedes Mal, wenn ich bei ihm zu Hause war und mich in seine Arme kuschelte, wuchs die Sehnsucht in mir nach Freiheit und Aufbruch. Aber auch die Angst vor dem Zorn meines Vaters. Warum konnte ich nicht das Beste aus beiden Welten haben: nach außen hin die wohlerzogene Debütantin und hinter den Kulissen eine ungehemmte Frau? War die Verkostung verbotener Früchte nicht das ultimative Abenteuer?
Ich spürte es gewiss in jenem Moment, als ich Richards Geruch einatmete: eine Mischung aus Farbe, Tabak und dem Schweiß eines Mannes, der vom Leben begeistert war. Sein Geruch war so sinnlich. Er öffnete seine Arme, ließ mich los und trat ein paar Schritte zurück.
„Lass mich dich ansehen“, sagte er.
Ich setzte das „hübsch-lächelnde“ Gesicht auf, das ich beim Ball zur Schau gestellt hatte, drehte mich herum und präsentierte mein Kleid. Warum fühlte ich mich in seiner Gegenwart so erhitzt und schüchtern? Bei den anderen fühlte ich mich nie so. Ich versuchte ihn mir im Smoking, als meine Begleitung auf dem Ball vorzustellen. Wie gerne hätte ich ihn dort an meiner Seite gehabt, anstatt mich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen zu fühlen. Aber er hatte weder den Namen noch die familiäre Herkunft, das Geld oder die Manieren. Dafür war er sexy und so viel amüsanter.
„Du bist wunderschön“, sagte er. „Eine majestätische Jeune File Bien Rangée. 1
Er knickste, lachte und gab mir einen Kuss, der durch meinen Körper direkt in meine Lenden fuhr.
Er bot mir Wein an. Ich bat um Wasser. Er hieß mich hinzusetzen, spielte Gitarre und sang Flamenco-Serenaden, während er mir tief in die Augen sah. Ich sang mit ihm. Nach und nach begannen wir ein Duett im Flamenco-Stil, mit leidenschaftlichem Klagen und Stöhnen, wie zwei spanische Liebhaber, die sich aus der Ferne nach einander sehnen.
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