Der Tatort war wie üblich eingezäunt. Weniger üblich war, dass es keinen gekennzeichneten Weg zur Leiche gab, einer weißen Gestalt, der Kate nur einen kurzen Blick zuwarf. Ein asphaltierter Parkplatz bot zwar nicht die gleichen Probleme der Spurensicherung wie ein unbebautes Grundstück oder eine öffentliche Straße, aber, dachte Kate missbilligend, derartige Vorsichtsmaßnahmen sind nun einmal unerlässlich. Sie trat bis zum Rand des hüfthohen Absperrbandes vor, das sich von der einen Ecke der Nightwood Bar bis zum Casbah Motel spannte, und sah sich das Gelände sorgfältig an.
Der Ort des Verbrechens bestand aus einer rechteckigen Fläche mit nur zwei Zugangsmöglichkeiten – dem vorderen Parkplatz und der Hintertür der Nightwood Bar. Vom dicht belaubten Abhang grenzte ihn seitlich und am hinteren Ende ein hoher Holzzaun ab. Innerhalb des Rechtecks befanden sich drei Dinge: ein Müllcontainer, ein beigefarbener VW-Bus Jahrgang sechzig mit zurückgeschobener Tür und eine weiß bekleidete Leiche.
»Sergeant Hansen«, rief Kate zu der Gruppe Polizisten hinüber, die sich vor der Hintertür der Nightwood Bar versammelt hatte. Hansen nickte Kate und Taylor zu und kam zu ihnen.
»Hier muss eine Wegkennzeichnung hin.« Sie zeigte, wo. »Quer hinüber, von dieser Seite hier.«
Er nickte erneut. »Wir haben auf Ihre und Eds Anweisungen gewartet, Kate. Die Barinhaberin hat das Opfer gefunden, Deems und Foster waren zuerst hier, ich hab sie mir angesehen. Dann haben wir alles abgesperrt.«
»Gute Arbeit, Fred. Hervorragend.« Als Vorgesetzte war sie froh darüber, einen offenbar unversehrten Tatort vorzufinden und die Ermittlungen nicht mit einem Rüffel eröffnen zu müssen, selbst wenn die Liste der von Hansen falsch ausgeführten Untersuchungen einen solchen gerechtfertigt hätte.
Hansen sah auf sein Klemmbrett hinunter. »Viel haben wir noch nicht. Das Opfer heißt Dory Quillin.« Er buchstabierte den Namen. »Einundzwanzig, sagt die Besitzerin von der Bar. Sieht aber nicht so aus. Sie sieht aus …«
Hansens Stimme schien höher zu sein als sonst, und Kate sah von ihrem Notizbuch auf. Sein Blick war auf einen Punkt irgendwo hinter ihren Schultern gerichtet. »Ich weiß nicht«, sagte er, »mein Gott, ich weiß nicht, sie sieht aus wie … sie ist noch ein Kind.«
Der sauertöpfische Hansen, der bereits an unzähligen Ermittlungen zum Tod junger Opfer teilgenommen hatte, ließ sich gewöhnlich durch nichts so leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Offensichtlich hatte irgendetwas an diesem Mord die stählerne Schutzmauer seines vierzehnjährigen Polizeidienstes durchbrochen. Sie wusste, ihm war diese Betroffenheit nicht lieb, ihr wäre es genauso gegangen. »Was haben wir denn sonst noch?« fragte sie aufmunternd.
Hansen blickte wieder auf sein Klemmbrett. »Linke Schläfe zertrümmert.« Seine Stimme gewann wieder an Kraft. »Baseballschläger, liegt am Tatort. Aluminium.«
»Wann?«, fragte Taylor, ohne den Blick von seinem Notizbuch zu heben.
»Dem Aussehen nach zu schätzen höchstens vor einer Stunde. Sie war gerade vom Baseballspiel zurückgekommen. Sie …« Hansens Stimme brach ab.
»Also was?«, fragte Taylor ungeduldig. »Irgendwelche Verdächtigen? Zeugen?«
Hansens Augen richteten sich erneut auf einen Punkt hinter Kates Schulter. »Jede Menge möglicher Zeugen. Alles Frauen, alle aus dieser Bar da, Ed.« Er wartete, bis Taylor aufsah. Dann wies er zur Nightwood Bar hin. »Das ist ’ne … nur für Frauen.«
Kate drehte sich unwillkürlich um und starrte zur Nightwood Bar hinüber. Eine Lesbenbar. In so einer Bar war sie seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen, nicht mehr seit …
Sie zwang sich in die Gegenwart zurück und konzentrierte sich wieder auf Hansens Worte. »Wir haben alle befragt, Namen und Führerscheinnummern notiert – hat nicht viel gebracht. Außer der Besitzerin verweigern alle die Zusammenarbeit.«
Taylor kratzte sich am Kopf und strich sich ein paar Strähnen seines schütteren blonden Haars über seine kahle Stelle. »Was ist mit Deems? Waren die bereit, mit Deems zu reden?«
»Bei ihr wurden sie erst recht feindselig.« Taylor stöhnte auf und verdrehte die Augen. »Ist mir doch egal, ob das Lesben sind. Von mir aus können sie vom Mars kommen. Warum müssen die alle immer so bescheuert sein, herrgottverdammtnochmal!«
»Jede verfolgte Minderheit«, dozierte Hansen, als zitiere er aus einer Abhandlung, »neigt dazu, sich gegenüber den Symbolen ihrer Verfolgung feindlich zu verhalten.«
»Ach Scheiße«, knurrte Taylor.
Kate grinste ihn an. Es war, wenn auch auf unverschämte Weise, rasch und klar ausgesprochen worden, was das für Frauen waren, und sie war froh darüber. An Hansen gewandt sagte sie: »Aber die Besitzerin der Bar hat mit Ihnen gesprochen?«
Hansen sah auf seine Aufzeichnungen. »Magda Schaeffer.« Er buchstabierte den Namen. »Das habe ich von ihrem Gewerbeschein, nicht von ihr. Sie wurde etwas kooperativer, als ich ihr zu verstehen gab, dass es durchaus Anlass gäbe, ihr was anzuhängen.« Hansens Gesicht nahm wieder grimmigere Züge an. »Von wegen Alkoholausschank an Minderjährige. Kate, das Opfer, also wenn die einundzwanzig ist, dann bin ich …«
»Gefälschter Ausweis«, sagte Taylor gelangweilt. »Wetten, dass wir so was bei ihr finden? Gibt es sonst noch was? Wo hat sie gewohnt?«
»Exakt hier.« Hansen zeigte auf den Bus. »Die Schaeffer sagt, dass sie ihn meistens hier abgestellt hat oder am Strand.«
Kate sah sich das ramponierte Gefährt genauer an. »Wir werden ihn beschlagnahmen. Eltern? Verwandte?«
»Eltern – in West Hollywood, meint die Schaeffer. Die anderen Frauen hier behaupten, sie hätten das Opfer nur flüchtig gekannt. Das ist bislang alles.«
Kate sah zum Casbah Motel hinüber, dessen L-förmiger Grundriss die vierte Seite des Platzes bildete; sie blickte zu den blinden Vierecken der mit beigefarbenen Vorhängen verhangenen Fenster hoch und wies dorthin. »Wen haben Sie dort eingesetzt, Fred?«
»Davis und Ploski.«
»Nehmen Sie jeden verfügbaren Polizisten, den Sie entbehren können. Ich bin sicher, die lassen eine Durchsuchung zu. Sie sollen jeden, den sie finden können, befragen. Ein Motel und Sonntagabend – da reisen die Leute ab. Holen Sie sich ihre Adressen. Und vergessen Sie auf keinen Fall die Zulassung jedes einzelnen Wagens hier auf dem Parkplatz und unten in der La Brea Avenue festzustellen. Und die Gästeeintragungen vom Motel, die können wir auch brauchen.« Zu Taylor sagte sie: »Fangen wir an, bevor die vom Labor sich auf alles stürzen.«
Sie malte rasch eine Skizze von dem Rechteck in ihr Notizbuch, markierte die Position von Müllcontainer, Bus und Leiche. Dann notierte sie ihre und Taylors Ankunftszeit, 19.30 Uhr, und das Datum, 16. Juni 1985, und die ungefähre Temperatur, 23 Grad.
Kate und Taylor gingen an den Schaulustigen vorbei, die vor ihnen zurückwichen, als hätten sie Angst, sich anzustecken, und folgten dem gelben Band bis zum anderen Ende des Rechtecks. Kate betrat es zuerst, Taylor wartete auf ihr Zeichen. Sie bewegte sich in gerader Linie vorsichtig auf den VW-Bus zu und studierte bei jedem Schritt sorgfältig den Boden.
Der Parkplatz war ungewöhnlich sauber. Ein paar Fetzen Einwickelpapier vom Imbissstand klebten am Zaun, aber das meiste war vom Hang herabgeweht worden – Blätter, Tannennadeln, kleine Zweige, die die Windböen zu Mustern zusammengeweht hatten. Sie bückte sich mehrfach, um die Zigarettenstummel und Streichhölzer zu begutachten, die auf dem Asphalt festklebten und ihrem verrotteten Aussehen nach bereits mehrere Tage alt waren. Der oder die Mörder hatten irgendwo ihre Unterschrift hinterlassen – alle Mörder taten das; allerdings, dachte Kate, würde sie die kaum hier draußen frei herumliegend finden.
Als ihr Blick ein paar Flecken folgte, die wie gewöhnliche Ölspuren auf Asphalt aussahen, blieb er plötzlich an einem Paar starrer, silberblauer Augen hängen.
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