»Weil er vielleicht nicht mehr gefunden werden will … morgen oder übermorgen.«
»Warum nicht?«
»Fragen Sie Harold Booth, Mr. Crazy Eagle. Der kann Ihnen sagen … wovor er Angst hat.«
Auf der Straße rührte es sich. Die Beamten kamen zu ihren Wagen, um von ihren Privathäusern die wenigen Meter zurück zu den Büros zu fahren. Manche Wagen wechselten nur die Straßenseite.
Der Gärtnerlehrling schaute zu und verbarg seine Gedanken.
Für den Freitagnachmittag waren keine Gerichtstermine mehr angesetzt, aber Ed wollte sich für die Verhandlungen in der nächsten Woche schon vorbereiten. Mit der vorsichtigen, tastenden Gangart des Blinden machte er sich auf den Weg zu dem kleinen Gerichtshaus.
Haverman lief ihm nach.
»Darf ich Sie fahren, Mr. Crazy Eagle? Haben Sie Ihren Wagen nicht da?«
»Danke, der Wagen ist da, aber ich laufe die paar Schritte.«
Haverman schüttelte den Kopf und begab sich in sein Dienstzimmer.
In der schmalen Kammer, die sich Crazy Eagle selbst als Arbeitsraum ausgewählt hatte, fand er Runzelmann und, wie er dem Geräusch des Aufstehens von einem Stuhl entnahm, noch einen zweiten Besucher.
»Harold Booth«, stellte sich dieser vor.
»Ah, gut.«
Der Blinde setzte sich. Harold wollte nicht wieder Platz nehmen.
»Was gibt’s?«
»Nichts von Belang.«
Harold war einen Meter fünfundachtzig groß. Er hatte nicht nur eine breitschultrige Figur, sondern auch eine dementsprechende Stimme. Der Blinde konnte sich leicht ein Bild von ihm machen. Er roch nach Pferden und Rindern und nach Leder.
»Aber es gibt etwas, weswegen du zu mir kommst.«
»Ja.« Das Ja klang verlegen. Harold knautschte den Cowboyhut in der Hand. »Vielleicht haben sie Sie nicht damit belästigt, Chief Crazy Eagle, aber wenn …«
» … dann …?«
»Ich habe keine Angst. Das ist dummes Geschwätz.«
»Wovor sollte auch ein Bursche wie du Angst haben!?«
»Eben.« Harold atmete auf. »Mir kann das egal sein, wer sich auf der Reservation herumtreibt. Ich möchte nur nicht, dass er Queenie belästigt. Dann schlage ich zu.«
»Queenie? Die Queen unter euren Teenagern?«
Harold lachte kurz, freundlich, aufgeschlossen. »So ist’s.«
Der Blinde hörte, dass Harold an seiner Lederweste herumknöpfte, aufknöpfte, zuknöpfte, aufknöpfte, tastete. Er konnte nicht sehen, dass Harold in einem Anhänger an silbernem Kettchen ein Bild mit sich trug.
»Und was soll ich tun, Harold?«
»Nichts. Deswegen komme ich. Sie brauchen nichts zu unternehmen. Ich gehe nicht zum Tanz und nicht zum Trinken. Ich bleibe auf unserer Ranch, dort wird er sich nicht wieder sehen lassen. Oder ich besuche die Eltern von Queenie. Sie kommt jetzt in den Ferien heim.«
»Und bei den Eltern von Queenie stoßt ihr dann zusammen?«
»Kaum. Der Vater würde ihn nicht ins Haus lassen.«
»Woher kennt ihr drei euch?«
»Wir waren einmal in der gleichen Schule … damals war Queenie noch ein kleines Mädchen, ja.«
»Lernt sie nicht jetzt auf der Kunstschule?«
»Ganz recht. Aber in den Ferien kommt sie heim. Nächstes Jahr macht sie den Abschluss. Endlich.« Das »Endlich« klang unzufrieden.
»Ist es nicht gut, dass sie so lange lernt?«
»Es kommt darauf an, was. Sie hätte bei ihren Eltern lernen können, was eine Frau auf einer Ranch wissen und können muss.«
Das verborgene Lächeln legte sich um die Mundwinkel des Blinden. »Sie ist auf der Ranch des Vaters aufgewachsen. Es wird nicht schwer halten, dass sie sich einmal auf einer größeren zurechtfindet.«
»Das denke ich mir eben auch. Aber man hört, dass die auf der Kunstschule …«
»Was?«
»Dass sie dort nicht gut erzogen werden können. So viele Künstler auf einen Haufen, Chief Crazy Eagle, wie soll das gutgehen? Das ganze Jahr über hat sie mir nie geschrieben. In der Schule herrscht keine Ordnung. Wie soll es Ordnung geben, wenn Dakota und Siksikau und Hopi und Navajo und Apachen und Pima und wer weiß was noch alles in einem Haus durcheinanderwirbeln? Da gibt es keine anständigen Grundsätze.« Harold hatte immer schneller und eifriger gesprochen. »Also bin ich gekommen, um Sie zu bitten, Chief Crazy Eagle …«
»Ich bin aus Fleisch und Blut, und ich bin kein Chief. Ich kann auch nicht als Schutzgeist über Queenie schweben. Sie muss sich schon selbst behaupten.«
»Schließlich ist sie auch nur ein Mädchen. Können Sie nicht mit dem Vater reden, dass er Queenie nun hierbehält, und wir machen Hochzeit? Auf Sie würde der Vater hören.«
»Nein, Harold, ich rede nicht mit ihm. Ich bin nicht dafür, dass ein Indianermädchen ein Jahr vor dem Abschluss von der Schule abgeht. Queenies Name ist bis zu mir gedrungen, weil sie eine sehr gute Schülerin und eine begabte junge Künstlerin ist. Wir können stolz auf sie sein. Sie soll ein Vorbild für die anderen Indianermädchen werden.«
»Es kommt ja immer darauf an, worin man Vorbild ist.«
»Traust du ihr so wenig?«
»Den jungen Burschen traue ich nicht … überhaupt … hat sie sich auch einmal …« Harold brach ab und spuckte aus.
»Gespuckt wird hier nicht, Harold Booth. Das kannst du auf deiner Ranch machen, aber nicht hier auf dem Gericht.«
»Entschuldigung«, murmelte der Bursche. »Ich meine aber, es wird für mich selbst jetzt Zeit zu heiraten. Ich bin fünfundzwanzig. Es kommt ja nicht nur auf das Mädchen an und was die will. Ich kann auch andre haben. Aber die Arbeit auf der Ranch wird zuviel für uns, und der Vater drängt.«
»Das ist deine Sache, Harold Booth. Wollt ihr euch nicht jemanden zur Hilfe nehmen? Viele suchen Arbeit.«
»Fremde Hände können wir nicht bezahlen; das trägt die Ranch auf dem schlechten Boden hier nicht. Die Familie muss arbeiten. Aber das ist meine Sache, Chief Crazy Eagle, Sie haben recht.«
Harold sprach wieder ruhig und zuversichtlich. »Queenie kommt heim, dann wird man sehen, und es wird sich alles regeln. Sie kann mich hören, den Vater hören und nachdenken. – Ich danke, Chief Crazy Eagle.«
»Guten Tag, Harold.«
Als Harold Booth das Zimmer verlassen hatte, ließ sich der blinde Richter das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen.
»Runzelmann«, fragte er schließlich, »rechnet Harold immer so nüchtern?«
»Er hat noch nie gerechnet, Ed. Seine Mutter hat etwas Geld mit in die Ehe gebracht; die Booths haben eine große Ranch gepachtet. Harold ist der Jüngste und der Liebling der Eltern. Er war einer der besten Schüler, die Lehrer mochten ihn gut leiden, und er ist ein fröhlicher Cowboy und ein ansehnlicher Bursche geworden. Er ist daran gewöhnt, dass ihm nichts im Leben schiefgeht. Die Mädchen haben ihn gern.«
»Queenie ist schon lange seine Liebe?«
»Man sagt es.«
»Was hat er unter seiner Weste gesucht?«
»Er trägt ein Medaillon an einem silbernen Kettchen. Vielleicht ihr Bild.«
»Was gefällt dir denn nicht an ihm?«
»Ich weiß nicht. Aber was er gesagt hat und wie er es gesagt hat, das passt nicht zu ihm. Ich glaube, dass ihm das jemand anders eingegeben hat.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht.«
»Vermutest du etwas?«
»Ja. Aber das kann ich nicht sagen, weil ich es nicht beweisen kann.«
Die Klimaanlagen waren in Betrieb, und es herrschte in den Räumen der Kunstschule jene gemäßigte, immer gleichbleibende Kühle, an deren Unnatürlichkeit Queenie sich erst hatte gewöhnen müssen.
Sie war erwacht, aber draußen war es noch dunkel. Der Brunnen, auf den sie vom Bett aus schauen konnte, war abgestellt. In den Bäumen rauschte der Nachtwind. Queenie hörte es, obgleich die Fenster geschlossen bleiben mussten. Sie hatte die Augen offen, und ihre Gedanken spielten zwischen Traum und klarem Bewusstsein.
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