Eine Steinkonstruktion in Form eines großen viereckigen Tisches nahm fast die ganze Höhle ein und ließ nur einen sehr schmalen Gang ringsum. Die Deckplatte dieses Tisches war ganz aus Eisen und von mehreren großen Löchern durchbrochen. Es konnte ein kunstloser, dem Berggenius oder irgendeinem Dämon geweihter Altar sein. Der Bön führte verschiedene Gebärden aus. Er ließ sein Gewand fallen und erschien nackt; ein Skelett, wie sein Gesicht mit einer dünnen, über die Knochen gespannten Haut bedeckt. Von einem Felsvorsprung nahm er einen kleinen runden hohlen Löffel, der mit einem langen Stiel versehen war, tauchte diesen dann in eines der offenen Löcher der Tischplatte und schien etwas zu schöpfen. Er wiederholte dies mehrmals, indem er den Gehalt des Löffels jeweils über verschiedene Teile seines Körpers goss und ihn dann einrieb. Währenddessen hörte sein gedämpfter Singsang nicht auf. (…)
‚Dies ist der wahre Trank der Unsterblichkeit‘, brachte er lehrhaft hervor. ‚Die Lebenskraft junger und kräftiger Männer ist darin aufgelöst. Für jeden anderen als einen Eingeweihten ist dieser Trank tödlich; für den auf seine Aufnahme vorbereiteten Eingeweihten wird er zur Quelle unvergänglicher Kraft. Schätzt Euch glücklich, mein Sohn, dass Ihr zum Unterhalt dieser Quelle habt beitragen können, die die oberen Meister zu wahren Göttern machen wird.‘2
Der Bön-Meister spricht hier zu seinem Opfer unterhalb des Altars, der, in der Grube eingeschlossen, bei lebendigem Leibe zwischen den Überresten seiner Vorgänger verwest und aus dessen Verwesungsdämpfen der Unsterblichkeitstrunk gebraut wird.
Der eben zitierte Passus soll nun keineswegs als symptomatisch für Praktiken des linkshändigen Pfades stehen; er soll lediglich verdeutlichen, dass der Vama Marg eben nicht nur eine Philosophie der Autonomie und Individuation darstellt, sondern sich mitunter tatsächlich in jene Gefilde begibt, die wir als unethisch betrachten. Wir müssen uns dabei vor Augen halten, dass der eigentlich relevante Part der zitierten Passage die Bindung an die Erde und an das Fleisch ist, und nicht der Weg, den wohl auch die meisten der heutigen Bön-Schamanen als unethisch betrachten würden. Über die Ngagpas berichtet David-Néel folgendermaßen:
Die Ngagpas, die „Leute der geheimen Worte“, sind Zauberer. Sie haben das Erbe der Bön-Schamanen angetreten, die, ehe der Buddhismus nach Tibet kam, dort als Priester herrschten. Der von den Hindusendboten seit dem 8. Jahrhundert in Tibet gepredigte Buddhismus war bereits weit von der Lehre des Buddha entfernt; er hatte dem Tantrismus allerlei abergläubische Bräuche entlehnt. Diese waren den Grundlehren der tibetischen Bön-Schamanen so ähnlich, dass einer teilweisen Verschmelzung der neuen und der alten Religion keine unüberwindlichen Hindernisse im Weg standen. So kommt es denn, dass unter dem Namen Ngagpas richtige Schamanen zur lamaistischen Geistlichkeit gehören, wenn auch „uneigentlich“. Ihre Aufgabe ist der Verkehr mit den Geistern. Dieser dienen sie auf verschiedene Weise, die einen zu unabhängigen Gruppen zusammengeschlossen, die sich zu bestimmten Zeiten in eigenen Tempeln vereinigen, im Übrigen aber bei ihrer Familie leben (sie dürfen heiraten), andere stehen ganz für sich und üben die von einem Meister ihrer Sekte erlernten Zauberkünste zu ihrem eigenen Nutzen aus oder, häufiger, gegen Vergütung, wenn Leute ein durch Geister erzeugtes Unheil von sich ablenken oder einen Mitmenschen auf solchem Wege schädigen wollen. Es gibt jedoch noch eine dritte Art. Einige große lamaistische Klöster der Gelbmützensekte, wie Labrang, haben sich außerhalb der Mauern eine Gruppe Ngagpas angegliedert, die als Stellvertreter der Mönche den Verkehr mit den bösen Geistern aufrechterhalten. Die Gelbmützen selbst dürfen den Geistern nicht die Ehre erweisen, nach der diese begierig sind, oder ihnen die Nahrung bieten, die sie fordern. Das tun die Ngagpas für sie gegen Entlohnung. Der Zaubertempel, den ich besichtigte, war geräumig und sehr gut erhalten. Die Fresken an den Wänden zeigten grausig-malerische Darstellungen, die man an all den „schrecklichen Gottheiten“ gewidmeten Orten findet. Die „schrecklichen Gottheiten“ sind in der Mehrzahl bekehrte oder mit Gewalt unterworfene böse Geister, die ein Zauberheiliger zwang, ihre Kraft der Verteidigung der lamaistischen Religion und ihrer Gläubigen zu widmen. Um die geheimnisvollen Götterfiguren herum hatte der Maler eine ganze Höllenwelt aufgebaut; scheußliche Teufel und Teufelinnen zogen unglückseligen Menschen die Haut ab, fraßen ihnen das Herz aus dem Leibe und was dergleichen schauerliche Beschäftigungen mehr sind. Die Tibeter sind übrigens gegen solche Bilder abgestumpft; es gibt sie in ihrem Lande in Unmassen und bis auf die Gelehrten, die ihre sinnbildliche Bedeutung kennen, schenkt ihnen niemand Beachtung.3
Alexandra David-Néel schließt ihre Ausführungen mit einer Bemerkung, die wir bedenkenlos auf heutige westliche Anhänger des Linken Pfades übernehmen können:
Die Ngagpas, in deren Tätigkeitsbereich auch die „schwarze Magie“ gehört, sind oft liebenswürdige Leute. Den Dünkel, den die Zauberkundigen aus der eigentlichen Geistlichkeit gern zur Schau tragen, kennen sie meist nicht, wahrscheinlich, weil sie eine niedrigere Stellung in der geistlichen Rangordnung einnehmen. Ich habe aber auch einige getroffen, die sich selbst und alles andere auf der Welt grundsätzlich nicht allzu ernst nehmen.4
Ein moderner Vertreter des linkshändigen Pfades ist der große britische Künstler und Visionär Austin Osman Spare (1886 – 1956), dessen Leben und Werk grenzüberschreitend und in jeder Hinsicht ein dramatisch-ekstatisches Bekenntnis an das Fleisch und die Erde darstellt. Seine kryptischen Schriften und mystischallegorischen Bilder wurzeln in einem von ihm erschaffenen Glaubenssystem, welches zuweilen mehr oder weniger treffend als Freistilschamanismus bezeichnet wird. Spare entwickelte aus dem klassischen Yoga heraus einige Ekstase- und Trancetechniken, die den psychischen Zensor des Menschen ausschalten sollen um die wahre und unbändige Kraft des Menschen zu entfesseln. Nach Spare lauert diese im Unbewussten und kann daher nur durch das Ausschalten des Bewusstseins aktiviert werden. Alle tatsächliche Macht schlummert in der Nachtseite und wird vom Bewusstsein und der alltäglichen Wirklichkeit lahm gelegt. Auch das Wissen darüber muss aus dem Wachzustand verschwinden, da das bewusste Wünschen jegliche Manifestation des Wünschens selbst verhindert. Es sind die vergessenen Träume, die zu Fleisch werden, nicht die Wünsche.
Tot ist mein Bestreben
Allzu früh verstorben,
Und mit ihm die Fürsorge der Liebe
Und das Juwel im Lotus
Die Zukunft hält nichts für mich bereit
Außer Sünde und Tod,
Abgeschnitten bin ich selbst
Von den von mir geschaffenen FREUDEN,
Nur die Einöde des Lebens verbleibt,
Doch in der Verzweiflung
Sehen wir das wahre Licht,
Und in der Schwäche werden wir stark.
AMEN.5
(Austin Osman Spare – Inferno Erde )
Spares ist ein Rausch- und Ekstasekünstler wie er in der Geschichte der westlichen Esoterik nur selten anzutreffen ist. Seine skurrile Persönlichkeit und seine konsequente Verachtung für die Gesellschaft lassen ihn den tibetischen Bön-Einsiedlern ebenbürtig werden: Ein moderner Eremit des Linkshändigen Pfades.
Oh Selbst, mein Gott! Fern ist Dein Name außer in der Blasphemie, denn ich bin Dein Ikonoklast. Dein Brot speie ich in die Fluten, denn ich selbst bin mir Fleisch genug. Verborgen im Labyrinth des Alphabets ist mein geheiligter Name, die SIGIL aller unbekannten Dinge. Auf Erden ist mein Königreich die Ewigkeit des Wünschens. Mein Wunsch inkarniert im Glauben und wird zu Fleisch, denn – ICH BIN DIE LEBENDE WAHRHEIT. Der Himmel ist Ekstase, die Verwandlung und Vereinigung meines Bewusstseins. Möge ich die Kraft haben, aus meiner eigenen Überfülle zu schöpfen. Lass mich Rechtschaffenheit vergessen. Befreie mich von Moral. Führe mich in die Versuchung meiner selbst, denn ich bin ein schwankendes Königreich aus Gut und Böse. Möge ich Reichtum durch alle Dinge erlangen, derer ich mich erfreute. Sei meiner Übertretung würdig. Gib mir den Tod meiner Seele. Berausche mich mit Selbstliebe. Lehre mich die Bewahrung ihrer Freiheit, denn Hölle bin ich zu genüge selbst. Lass mich gegen alle kleinlichen Bekenntnisse sündigen6
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