Nun hatten wir alles verloren, aber waren in Sicherheit, wenn auch nur mit dem, was jeder auf dem Leib trug. Mit Tränen in den Augen sah sich Mutter im Zimmer um und sagte schluchzend: „Nun muss ich wieder einmal von vorne anfangen, ohne euren Vater, der im Krieg gegen Russland kämpfen muss.“ Dem fügte sie dann noch hinzu: „Jetzt habe ich ja große Kinder, die mir dabei helfen werden.“ Nachdenklich begann Mutter mit dem Auspacken des einzigen Koffers, den sie von unserem verunglückten Pferdewagen hatte retten können. Wehmütig und mit zitternden Händen legte sie den Inhalt auf die Betten und bemerkte traurig: „Mehr haben wir nicht retten können.“
Dann kam jemand die Treppe hoch. Es war die Tochter des Bauern, die uns zum Mittagessen einlud, was uns sehr gelegen kam. In ihrer Wohnküche servierte sie uns einen deftigen ländlichen Braten, der uns vorzüglich schmeckte, weil es die erste Mahlzeit seit Tagen war.
Nach und nach versammelte sich die Familie des Bauern, welche uns mit Fragen überschüttete, wer wir sind und woher wir kommen. Dass durch einen Fliegerangriff unser Gespann getroffen und eine Böschung hinuntergestürzt war, löste Betroffenheit bei der Bauernfamilie aus. Im Laufe der Unterhaltung stellte sich die Frage, wie es in Zukunft weitergehen sollte. Diesbezüglich machte der Bauer den Vorschlag, uns für die nächsten Wochen voll zu verpflegen, im Gegenzug sollten kleine Arbeiten von uns verrichtet werden. Das hielten Mutter und ich für eine annehmbare Lösung, soweit sich die Arbeit auf Stalldienst und Füttern der Tiere bezog. Diese Stallarbeiten hatten Mutter und ich als 14-Jähriger ab Februar an. Diese begann um 5 Uhr in der Frühe und dauerte zwei Stunden. Am Abend dauerte die Fütterung drei Stunden, wobei die 26 Milchkühe von Hand gemolken wurden.
Somit war unsere Familie für das Erste versorgt, wenn auch beengt. Wir mussten uns zu fünft zwei Betten teilen. Es machte sich erforderlich, dass Mutter zwei Strohsäcke anfertigte, die tagsüber unter den Betten verstaut wurden.
An die fremde Umgebung, an Land und Leute mussten wir uns erst gewöhnen, auch an die Sitten und Gebräuche.
Die Gemeindevertretung leitete unsere Einschulung in die Wege, so konnten Irma, Helmuth und ich täglich die Dorfschule in Mörz besuchen. Dort lernte ich nicht nur die einheimischen Schulkinder kennen, sondern auch die Kinder der anderen Flüchtlingsfamilien. In einer Pause sprachen wir uns gegenseitig an. Simon und Hugo waren wie ich 14 Jahre alt, was uns schnell zu Freunden werden ließ. Wir werden das achte Schuljahr gemeinsam beenden und dann in das Arbeitsleben einsteigen.
Vorerst muss unsere Familie sesshaft werden und durch die nächste Zeit kommen. Weil wir als Flüchtlinge nicht willkommen sind, ist es doppelt schwer, sich zu integrieren.
Nach einigen Monaten erreichte der Krieg das Deutsche Reich, die Folgen waren Not, Tod, und Gewalt. Dem NS-Regime war es im Laufe des Krieges gelungen, die russische Armee dem deutschen Volk durch Hasspropaganda als Schreckgespenst darzustellen, das sich durch Unmenschlichkeit auszeichnet. Als die Front unsere Region erreichte, ergriffen die Bauernfamilien und wir mit ihnen die Flucht, um den Russen nicht in die Hände zu fallen. Die Strategie der Alliierten änderte sich dahingehend, dass die russische Armee den Rest des Reiches und Berlin vom Faschismus befreien sollte. Somit war unsere Flucht umsonst und wir fuhren in unseren Heimatort Mörz zurück. wo uns schon auf dem Weg dahin die Rote Armee begegnete. Mit Angstschweiß auf der Stirn sahen wir den ersten Jeep mit russischen Soldaten auf uns zukommen, die Maschinenpistolen waren auf uns gerichtet. Nach einiger Zeit erreichte unser Treck die Stadt Wiesenburg, wo es von Soldaten nur so wimmelte. Sie belästigten Männer und Frauen mit den schnell gelernten Worten, „Uhri Uhri“ (sie meinten Uhren) und „Frau komm mit“. Als Kinder wussten wir nicht, was das bedeutet.
Soll sich die Gräuelpropaganda der Nazis im Gedeih doch bewahrheiten? Dann kämen wir ja vom Regen in die Traufe. Leider gab es die Übergriffe und Plünderungen, wogegen uns die deutschen Behörden nicht schützen konnten.
Die russische Armee hat uns zwar von der braunen Diktatur befreit, hat uns aber die rote nicht nur mitgebracht, sondern auch gleich vorgeführt. Betrunkene russische Soldaten zogen raubend und vergewaltigend durch die Dörfer, sodass wir schnell begriffen hatten, was uns in der Zukunft bevorstehen kann.
Stellvertretend für viele Übergriffe möchte ich nur einen herausstellen, der sich in unserem Dorf zugetragen hat.
In den Dörfern waren Wachposten eingerichtet, die aus einem Offizier und drei Soldaten bestanden, allabendlich floss der Wodka in Strömen und sie machten sich lautstark bemerkbar. Vor Übermut drangen sie in die Häuser ein und nahmen sich junge Frauen mit, vergewaltigten sie und warfen sie am Morgen halb nackt auf die Straße. Bei den Dorfbewohnern herrschte Angst und Abscheu. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, uns vor Überfällen zu schützen.
Die inzwischen sanierte Dorfschule in Mörz
Meine Konfirmation in Mörz 1946 (5. v .r)
Die Zeit verging und ich wurde 1946 aus der Schule entlassen, mein Bruder Herbert eingeschult. Zur gleichen Zeit wurden Simon, Hugo und ich in der Kirche zu Mörz konfirmiert. Die russisch-diktatorische Politik machte sich lautstark und mit Gewalt bemerkbar. Die Enteignung von Gutsbesitzern und Großbauern setzte ein, sodass wir als Geschwister in der Landwirtschaft keine Zukunft mehr sahen. Das führte mich dazu, einen Handwerksberuf zu ergreifen, was meine Geschwister etwas später auch taten. Unsere Mutter, einst stolze Bauernfrau auf eigener Scholle, blieb für viele Jahre Magd auf dem fremden Hof. Irgendwann wurde die Landarbeit für Mutter zu schwer und sie nahm eine Arbeit im Altersheim als Stationshilfe an.
Neuanfang und Berufsausbildung
In der damaligen russischen Besatzungszone schickten sich die Flüchtlinge aus den vielen Ländern an, der Familie eine neue Heimat zu schaffen. Dies betraf auch uns Bessarabiendeutsche. Die erlebten Grausamkeiten und Todesängste während der Flucht von Polen nach Deutschland hatten mich hart im Nehmen gemacht. Ich war der Älteste und spürte, dass ich Verantwortung für die Jüngeren tragen musste. Vor allem hatte ich für Mutter eine Stütze zu sein. Wenn es auch schmerzte, wieder unter einer neuen Gewaltherrschaft leben und arbeiten zu müssen, verdrängten wir doch die vorhandenen Realitäten.
Die Möglichkeit nach Baden-Württemberg umzusiedeln, wie es viele unserer Landsleute taten, wurde uns von der russischen Besatzungsmacht verweigert. An Unrecht, Gewalt und Bevormundung gewöhnt, beschloss ich, in der russischen Zone zu bleiben und die Landarbeit an den Nagel zu hängen. Der Bauer war meinen bescheidenen Lohnforderungen nicht nachgekommen, es kam dann zu Streitigkeiten.
Der Wunsch, einen Beruf zu ergreifen, nahm vollen Besitz von mir. Ich durfte ihn in Belzig beim Schmiedemeister Ernst Gottwald umsetzen. Nun schon als 17-Jähriger trat ich die dreijährige Lehre am 15. November 1947 an. So begann für mich ein neuer wichtiger Lebensabschnitt, der mich froh und glücklich stimmte.
Mein erster Eindruck in der Schmiede, der Meister beim Hufeisen schmieden
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