„Und nun, ihr Lieben, überlegt mal. Ist es nicht so, dass alle Menschen unentwegt jammern und klagen: Die Zeit rennt von Jahr zu Jahr schneller dahin?“ Alle nickten. Genau. Selbst die Geisterdamen verspürten hin und wieder das Dahinrasen der Zeit. Immer schneller und schneller verging sie.
„Der Erla draht an seinem Rad!“ „Dreht!“ fügte Fräulein Spitz , eine der anwesenden Geisterdamen, spitz ein. „Nicht jeder hier spricht Dialekt!“
Kranawitha verdrehte genervt die Augen und setzte ihren Bericht fort. „Der Riese hatte zwar versprochen, das geschickt zu tun, damit es nicht so auffällt. Aber manchmal, wenn er es gar nicht mehr aushalten konnte, heulte er derartig und drahte oder drehte einfach ein bisschen schneller.“ Er heulte übrigens immer öfter. Das war auch an diesem dauernden Regenwetter zu merken …
„B-b-blödsinn!“ Miss Molly war überzeugt, dass ihnen Kranawitha ein Märchen erzählt hatte. Zwar unterhaltsam und ganz nett, aber jeder wusste doch, wie das damals mit Erla ausgegangen war. Sie tippte auf das kleine rote Büchlein. „Der R-r-regen kann nicht von unten nach oben r-r-regnen! Der Erla hat sich s-s-seinerzeit in den Tr-tr-traunsee gestürzt, nachdem er bildhauerisch tätig war. Das steht nicht nur in diesem Märchen, das hab ich d-d-damals selbst im S-s-sagen-Kurier gelesen.“ „Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht“, erwiderte Kranawitha milde. Außerdem war ihr schnurzpiepe, in welcher Fassung der Sage Erlas Ende so oder so beschrieben wurde. Sie wusste es einfach besser, da sie durch die Verkleinerung des Riesen in die Angelegenheit involviert war.
Die durchsichtigen, inzwischen hellblauen Weiber kicherten. So richtig ernst nehmen konnten sie die ganze Sache wohl alle nicht. Vielleicht hatte sich Kranawitha die Story mit der Maschine wirklich nur ausgedacht?! Ihr Gesicht verfinsterte sich. „I dazöh do da koan Schmoarn! Äh – ich meine: Ich erzähl doch hier keinen Scheiß!“
Sie rauschte durch die Halle und tippte an eine Felsensäule. Die Wand öffnete sich und gab eine Art überdimensionales Bullauge frei. Staunend betrachteten die Geisterdamen das Ding. Kranawitha berührte die Mattschiebe, aber nichts passierte. „Wo hab ich denn nun wieder die Fernbedienung?“, murmelte sie und sah sich suchend um. Sie entdeckte das kleine Gerät unter dem Kopf eines schlafenden schwarzen Bären in der Ecke. Sie schob das Tier ärgerlich beiseite.
Früher waren die Bären wenigstens noch zu einigen Kunststücken fähig. Die führten sie vor, wenn Kranawitha Besuch hatte. Ihre Gäste spendeten immer ganz entzückt Beifall. In den letzten Jahren aber waren die dicken Tiere so faul geworden, dass sie nur noch in der Höhle herumlagen und pennten.
Die Hexe nahm also die Fernbedienung, und kaum hatte sie auf einen der Knöpfe gedrückt, erschien auf dem runden Bildschirm ein ziemlich trostloses Etwas. Das war der Gipfel eines Berges, wolkenverhangen. „Der Traunstein!“ Obendrauf eine Art graues Gestrüpp. Aber plötzlich bewegte es sich, und drehte sich um.
Kreischend sahen die Geisterdamen nun direkt in das verheulte Gesicht des Riesen Erla. Das Gestrüpp entpuppte sich als sein langes Haar, das wirr und ungepflegt in einen riesigen Bart überging. Erla heulte und seine Tränen ergossen sich in Bächen die Felswände des Berges hinab. Dazu jammerte er derartig, dass einen das große Grausen überkam. Endlich war allen schlagartig klar, dass dies jenes fürchterliche Geräusch war! Der Riese sah traurig und voller Sehnsucht hinunter zum Schloss Ort.
5. Franzl hat die Torten und eine Erscheinung
Der Fahrer Franzl eilte, beladen mit Tortenkisten, vom Parkplatz am Ufer über die Holzbrücke zum Eingang des Schlosses auf die Insel. Er strahlte. Irgendwie war es dem Baumgartner gelungen, noch einmal all die Schokoladentorten aufzutreiben, die von der Filmfirma bestellt worden waren. Für Franzl war das wichtig. Er hatte sich geschworen, alles herbeizuschaffen, was die Filmleute haben wollten. Eine Herausforderung für einen echten Kerl aus Ebensee. Aber zu bewältigen. Da war sich Franzl ganz sicher.
Besorgt sah er von den Schachteln, auf die jetzt der Regen besonders stark prasselte, zum Traunstein hinauf – und erstarrte. Fast hätte er sämtliche Torten fallengelassen, konnte gerade noch in letzter Sekunde Schlimmstes verhindern. Er stand da wie angewurzelt, und panische Angst schnürte ihm die Kehle zu. Vom Gipfel des Berges sah ein mächtiges Gesicht auf ihn herunter. Riesige gerötete Augen schauten ihn traurig an. Franzl wollte schreien, aber kein Wort kam vor lauter Schreck über seine Lippen. Fast atemlos konnte er den Blick nicht abwenden von diesem Riesenmonster. Endlich schloss er kurz vor der Panik die Augen. Über sein Walkie-Talkie in der Brusttasche hörte er den Aufnahmeleiter quaken, dass er sich melden solle. Es sei dringend. Man wolle drehen, und alle warteten nur auf ihn. Oder besser: Auf die Torten. Franzl wusste, dass der Burger keinen Spaß verstand, wenn jemand zu spät kam. Er musste weiter! So nahm er sämtlichen Mut zusammen und öffnete die Augen wieder. Der Gipfel des Berges sah grau aus wie in den letzten Tagen. Das Gesicht war verschwunden. Franzl atmete erleichtert auf und setzte kopfschüttelnd seinen Weg fort. „I moa mi tramt vom Teufi“, murmelte er. Charly würden sagen: „Manchmal hab ich eine Schraube locker!“ Zwar nicht wörtlich übersetzt, aber ihrer Meinung nach durchaus auf den Franzl zutreffend. Er war ein viel zu gutmütiger Mensch und konnte keinem etwas abschlagen. Und da er sich in der Stadt und in der ganzen Gegend gut auskannte, musste er dauernd alles Mögliche für die anderen „privat“ besorgen. Von der Süddeutschen Zeitung über bestimmte Zigarettenmarken bis hin zu einem Termin für die Fußpflege. Franzl konnte nicht nein sagen.
Nun trabte er mit den Tortenkisten ziemlich irritiert die letzten Scüber die Brücke. Kurz vor dem Schlosstor blieb er plötzlich noch einmal stehen. Irgendetwas hatte er wahrgenommen, das gar nicht sein konnte. Dazu kam, dass dieses ekelhafte Geräusch jetzt wieder ganz und gar unerträglich laut wurde. Franzl sah mutig zum Traunstein und dann zu den Gipfeln der anderen Berge hinauf. Alles normal, keine Erscheinung! Aber der Himmel hatte sich verdunkelt, als wäre die Nacht hereingebrochen.
Der Mann bekam erneut Angst. Er schluckte und ging schneller. So ganz gesund war er nicht. Sein Blutdruck war etwas zu hoch. Er fasste den Entschluss, abends keinen Schluck Wein und schon gar kein Schnapserl mehr zu trinken. Vor allem nicht beides zusammen. Oder wenigstens nicht so viel wie gestern Abend …
6. Erla bewegt die Rasende Rosa
Die Geisterdamen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nachdem sie also erfahren hatten, dass sich der Riese Erla doch nicht vor lauter Kummer nach Blondchens Tod damals in den See gestürzt hatte, sondern im Inneren des Traunstein lebte, sahen sie ihn heute nun zum ersten Mal leibhaftig.
Wie gebannt starrten sie auf den runden Bildschirm. Erla befand sich jetzt in seiner Höhle. Er hatte aufgehört zu weinen, jammerte aber immer noch laut vor sich hin. Dann drehte er an der Kurbel jener gewaltigen Maschine, die fast den gesamten Platz in seiner Behausung einnahm. Sie anzutreiben schien ungeheuer schwer zu sein, denn nur ganz langsam bewegte sich das faszinierende Räderwerk.
Interessiert gingen die Geisterfrauen näher und bestaunten das Geschehen. Jetzt schwebte langsam ein Kalenderblatt zu Boden. Es fiel auf andere Blätter, die zu Hauf am unteren Rand der Maschine lagen. Erla rann der Schweiß über die Stirn. Er schaute hinauf zum Kalender, der unter der Decke hing. Es war Donnerstag, der 15. August.
„Ist h-h-heute nicht M-m-mittwoch?“, fragte Miss Molly kopfschüttelnd. Kranawitha verdrehte die Augen. Na klar war heute eigentlich Mittwoch. Aber nun ist schon Donnerstag, weil dieser bekloppte Riese an der Zeit gedreht hat! Und Erla schien noch Reserven zu haben. Er holte tief Luft und schob mit ganzer Kraft die Kurbel weiter. Ein Blatt nach dem anderen segelte an der Maschine vorbei zu Boden. Den Geisterdamen verschlug es den Atem. Als sie die Sprache wiederfanden, musste mindestens ein Monat vergangen sein. Das konnte doch nicht unbemerkt durchgehen?
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