Ungehindert durften wir im Morgengrauen weiterziehen. Ein wunderschöner Frühlingstag kündigte sich an. Das erste Grün zeigte sich an den Zweigen der Bäume, Vögel sangen, und am wolkenlosen Himmel zog eine Sonne ihre Bahn, die es schon sehr gut meinte. Sie beschien den ganzen Müll, der am Ende eines Weltkrieges anzufallen pflegt und gleichermaßen Sieger und Besiegte, Plünderer und Ausgeplünderte, Lebende und Tote.
Inmitten dieser Szenerie bewegten wir uns im Laufe des Tages weiter der Heimat zu, mußten aber bei Einbruch der Dunkelheit in Freiberg wiederum eine Zwangspause einlegen, bedingt durch die von den neuen Herren angeordnete nächtliche Sperrstunde. Hilfsbereite Freiberger Bürger boten uns Nachtquartier, Verpflegung und Fahrräder für die Weiterfahrt am nächsten Morgen. Indirekt war das einem Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten zu danken, der die Einwohner Freibergs aufforderte, ihre Fahrräder als Kriegsbeute in der Kommandantur anzuliefern. Mit einem halbwegs intaktem Herrenfahrrad war ich so am Morgen des 11. Mai 1945 in Freiberg gestartet, mit einem klapprigen, arg ramponierten Kinderfahrrad, das nur noch mit einem Pedal bestückt war, stand ich abends an der Mulde. Das war das Ergebnis mehrfacher Tauschaktionen, die mir im Laufe des Tages von marodierenden, keinen Widerspruch duldenden Herren aufgenötigt wurden.
Wie und auf welchem Wege ich an die Mulde herangekommen bin, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Man sprach mit entgegenkommenden deutschen Soldaten oder anderen Passanten, die in jenen Tagen sehr zahlreich die deutschen Landstraßen belebten, fragte nach dem Weg und ob die Luft rein wäre. Auf diese Weise erfuhr ich, daß über die Gebiete westlich der Mulde die Amis die Herrschaft angetreten hätten, daß der nächste Übergang in Colditz gesperrt sei, daß die Amis Jagd auf deutsche Soldaten machten und daß es ratsam sei, sich von der Uniform zu trennen.
Der Zufall wollte es, daß ich in dieser Situation mit einem Landser ins Gespräch kam, der bereits Zivilkleidung trug und am anderen Ufer der Mulde zu Hause war. Er kannte hier Weg und Steg, unter anderem auch den Steg über einem Muldenwehr in einer entlegenen Fabrikanlage, der „Eule“ 3, der einen verhältnismäßig risikolosen Übergang über die Mulde ermöglichen sollte. So war es dann auch. Ganz unspektakulär und unbehelligt wechselte ich von den Iwans zu den Amis über. Erleichtert betrat ich das westliche Muldenufer, weil ich meinte, daß die Geister Sibiriens, die bisher meine unsichtbaren Begleiter waren, nur auf eine günstige Gelegenheit wartend, mich wieder zu ergreifen, mich nun endgültig und unwiderruflich ziehen lassen müßten. Noch in diesen Betrachtungen versunken, riss mich mein Begleiter zu Boden. Ein sich nähernder Jeep mit einer amerikanischen Militärpatrouille, ließ es geraten erscheinen, sich vorübergehend unsichtbar zu machen. Noch trug ich meine Wehrmachtsuniform, die mich in den letzten Tagen eher vor Übergriffen geschützt, als diese provoziert hatte. Aber bei den Amis galten offenbar andere Gesetze. Die von den Sowjets im Überschwang des Sieges verkündete Generalamnestie, „Wojna kaput, nach Hause“ , hatte bei ihren Verbündeten offenbar keine Gültigkeit.
In Groß Sermuth, unmittelbar am westlichen Muldenufer, fand ich bei freundlichen Menschen ein Bett für die Nacht, einen gedeckten Tisch und das wichtigste für mein weiteres Fortkommen, die nun fast lebensnotwendige Zivilkleidung. Der Frühling des Jahres 1945 war ein Jahrhundertfrühling, strahlend schön, sonnig und warm, so daß zu meiner ganz persönlichen, auch äußerlich erkennbaren Demobilisierung, in Abhängigkeit von den Temperaturen, lediglich eine alte Hose und ein Hemd benötigt wurden. Diese zu finden, bereitete meinen Gastgebern keine Schwierigkeiten, so daß ich am nächsten Morgen, nun als unverdächtiger Zivilist, mit der Uniform im Rucksack und weiterhin mit meinem Kinderfahrrad, meinen Weg fortsetzen und damit die letzte Etappe im Zweiten Weltkrieg antreten konnte.
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Die Zonengrenze zwischen der sowjetischen und der britischen Besatzungszone Deutschlands und die Gründe, welche u. a. manchen Ostzonenbewohner veranlassten, schwarz über die grüne Grenze zu gehen.
Im Potsdamer Abkommen war noch die Rede davon, daß Deutschland politisch, wirtschaftlich und kulturell als Einheit zu betrachten sei. Zwei Jahre später hatten die Sieger von 1945 die gemeinsamen Festlegungen vergessen. Sie standen sich in offener Feindschaft gegenüber. An den Grenzen zwischen den westlichen und den östlichen Besatzungszonen drohte der „Eiserne Vorhang“ niederzugehen, und im allgemeinen Sprachgebrauch bürgerte sich der Begriff vom „Kalten Krieg“ ein.
In der sowjetischen Besatzungszone verhinderten umfangreiche Demontagen und Reparationslieferungen eine normale wirtschaftliche Entwicklung. Ein besonderes Kapitel war der Abbau der Uranvorkommen im Erzgebirge für die sowjetische Atomrüstung. Aue wurde zum Begriff für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft unter primitivsten Bedingungen. Wilde Gerüchte waren darüber im Umlauf, und es war nicht verwunderlich, daß die benötigten Arbeitskräfte nur durch Zwangsmaßnahmen verpflichtet werden konnten. Weil ich damals Maurer und damit beschäftigt war, Neubauernhöfe zu bauen, meinte ich, gegen derartiges zuverlässig abgesichert zu sein. Das erwies sich als Irrtum. Am 18. Juli 1947 4wurde ich aufgefordert, mich noch am gleichen Tage zu einer ärztlichen Untersuchung beim Arbeitsamt einzufinden. Im Ergebnis der Untersuchung bestätigte man mir beste Gesundheit. Außerdem wurde vermerkt, daß ich jung an Jahren und ledig sei. Unter den damaligen Umständen ließ das allerdings eher Befürchtungen als Freude aufkommen.
Bereits einen Tag später erschien zu außergewöhnlicher Stunde, abends gegen 9 Uhr, ein Volkspolizist in der Wohnung meiner Eltern und brachte mir eine Arbeitsverpflichtung, gemäß Befehl des Kontrollrates Nr. 3 u.s.w. Unter Androhung von Zwangsmaßnahmen wurde ich für die Zeit vom 21. Juli 1947 bis auf weiteres als „Hilfsarbeiter beim Arbeitsamt Aue“ verpflichtet. Was das bedeutete, war mir klar, und weil „bis auf weiteres“ im ungünstigsten Falle auch lebenslänglich sein konnte, packte ich ein paar Sachen zusammen und machte mich am 21. Juli 1947 in aller Herrgottsfrühe auf den Weg, nicht nach Aue, sondern in der entgegengesetzten Richtung.
Von Leipzig aus wollte ich zunächst die Zonengrenze erreichen und dann weitersehen. Diese Grenze war damals zwar bewacht, aber noch nicht hermetisch abgesperrt und in beiden Richtungen durch Flüchtlinge, Umsiedler, große und kleine Schieber ziemlich stark frequentiert. Demzufolge war auch der Bahnsteig, von dem der nächste Zug in Richtung Halle abfahren sollte, dicht belegt mit Menschen aller Altersstufen, die danach trachteten, sich eine günstige Ausgangsposition für den zu erwartenden Ansturm auf den einfahrenden Zug zu sichern.
Der Leipziger Hauptbahnhof
Die Bahnhofshalle – hier im März 2014 menschenleer
Als es dann soweit war, verwandelte sich der Bahnsteig in einen brodelnden Hexenkessel. Von beiden Seiten, durch Türen und Fenster, versuchten sie die Waggons zu erstürmen, blieben mit ihrem Gepäck in den engen Türen hängen, die Nachdrängenden fluchten, Kinder heulten, und wer nicht rücksichtslos seine Ellenbogen gebrauchte, blieb draußen. Zweimal gelang es mir, von der dem Bahnsteig abgewandten Seite aus, über die Gleise, hineinzukommen, zweimal wurden wir von der Bahnpolizei wieder hinausgejagt. Auch Puffer und Trittbretter mußten unter Androhung polizeilicher Gewalt wieder geräumt werden. Mit erheblicher Verspätung fuhr der Zug ab, ohne mich.
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