Es war eine Zeit der Dürftigkeit und Bescheidenheit am Rhein gewesen, wie überall in Deutschland. Die Menschen hatten im Krieg gelitten, einige hatten alles verloren. Am schlimmsten waren die betroffen, deren Söhne nicht aus dem Krieg zurückkamen. Das Wirtschaftswunder hatte noch nicht angefangen und die Menschen lebten oft von der Hand in den Mund. Wer es sich leisten konnte, holte sich ein bisschen Luxus vom Schwarzmarkt. Vielleicht hing die Hochzeitfeier von Engelbert Bergmeister und seiner Braut Gerlinde deswegen so lange in den Gedächtnissen nach. Man fragte sich damals, woher Engelbert das Geld hatte, um all die Speisen und Getränke zu besorgen.
Das alles wusste Olaf von seiner Großmutter. Sie meinte, auch sie hätte sich über den Wohlstand ihres Bräutigams gewundert, aber als glückliche Braut hätte sie natürlich nicht nachgefragt, wo das Geld herkam, und von sich aus hätte Engelbert nie darüber gesprochen. Er habe nur gesagt, dass er vor dem Krieg genug gespart hatte, um sich diese Hochzeit zu leisten, es sollte schließlich der schönste Tag in ihrem Leben werden.
Leider hatte der Großvater das Eheleben mit seiner Frau nicht lange genießen können, er ließ sie schon am Ende des gleichen Jahres als Witwe zurück. Eine Lungenentzündung, die er sich während der Zeit in dem Gefangenenlager auf den Rheinwiesen zwischen Remagen und Sinzig zugezogen hatte, war nicht in den Griff zu kriegen. Sie machte seinem Leben ein plötzliches und trauriges Ende. Die Kraft des Großvaters reichte noch, um einen Sohn zu zeugen, aber danach ging es mit ihm rapide bergab. Dieser Sohn war Olafs Vater Johannes gewesen, der nun auch nicht mehr auf der Erde war. Was für ein Segen, dass das mit der Zeugung noch geklappt hat, dachte Olaf Bergmeister, wenn das dem Großvater nicht gelungen wäre, gäbe es mich nicht. Manchmal fragte er sich, ob es Leute gab, die ihn vermissen würden. Viele wollten ihm nicht einfallen.
Die Großmutter hatte nie wieder geheiratet und nur selten über ihren Engelbert gesprochen. Wenn sie es tat, bestand sie stets darauf, dass sie ihn über alles geliebt habe und sich keinen anderen Mann an ihrer Seite vorstellen konnte. Erst spät in ihrem Leben, als sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, hatte sie Olaf die Wahrheit anvertraut, die ihr seit ihrer Hochzeit zu schaffen gemacht hatte. Sie sagte, sie wolle sich etwas von der Seele reden, wovon niemand ahne, dass es dort schlummere. Sie würde sich nicht einmal trauen, mit einem Priester in der Beichte darüber zu sprechen. Denn was würde der dann von ihr denken? Selbst die Angst vor einem unendlich langen Aufenthalt im Fegefeuer oder in der Hölle konnte sie nicht dazu bewegen.
Sie hatte Olaf erzählt, dass sie sich ihr Leben lang geschämt hatte, keine echte Trauer empfunden zu haben, als ihr Mann weniger als ein Jahr nach der Hochzeit an den Folgen der Krankheit starb, an der er seit der Kriegsgefangenschaft gelitten hatte. Zum Glück habe sie als Ergebnis der Ehe mit Engelbert wenigstens einen Sohn auf die Welt gebracht, der sei ihr Ein und Alles gewesen und habe ihr Trost für ihr Versagen als Ehefrau gegeben.
Sie sagte, sie hätte den Großvater eigentlich nicht heiraten dürfen, wenn sie auf ihr Gefühl gehört hätte. Als er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkam, sei er eine andere Person geworden, als er es vorher gewesen war. Manchmal machte er einen verwirrten Eindruck und sagte Dinge, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Er war nicht mehr der offene und liebenswerte Mann, der um sie geworben hatte. Sie hatte in ihrem Herzen gemerkt, dass ihre Liebe für ihn längst nicht so mehr bedingungslos war wie vor seiner Einberufung zum Militär. Aber weil er so viel Schlimmes durchgemacht hatte, tat er ihr leid und sie hatte nicht die Kraft gefunden, ihn mit ihren wahren Gefühlen zu konfrontieren. Sie hatte geglaubt, die Liebe würde sich mit der Zeit wieder einstellen. Außerdem war es für ihre ganze Familie selbstverständlich, dass sie Engelbert heiratete, als er nach all den Leiden wieder zuhause war. Er habe ein Recht darauf, nun die schönen Seiten des Lebens zu genießen. Dazu gehörten eine Ehefrau und die Freuden, die sie mit sich brachte. Sie habe ihm schließlich versprochen, ihn zu lieben, zu achten und zu ehren in guten und in schlechten Tagen.
Wenige Wochen, nachdem sie Olaf in dieses Geheimnis eingeweiht hatte, starb sie einen ruhigen Tod.
Olaf hatte inzwischen den Unrat seines Vaters aussortiert, den er in den Müll schmeißen wollte. Für die alten Möbel würde mit Sicherheit niemand etwas bezahlen wollen, die würde er einem karitativen Verein in der Stadt kostenlos anbieten. Was die nicht wollten, würden sie hoffentlich als Gegenleistung für seine Großzügigkeit kostenlos zur Deponie für Sperrmüll in Niederzissen bringen.
Im Schlafzimmer herrschte ein muffiger Geruch, damit unterschied es sich nur wenig von den anderen Räumen des Hauses. Die Matratzen waren feucht und wiesen unübersehbar Flecken von Schimmel auf, in einer Ecke lagen noch alte Bettlaken, in denen Generationen von Motten Hochzeit gefeiert und ihre Jungen großgezogen hatten. An den Wänden befanden sich Wasserflecken, die Nässe hatte über die Zeit ihren Weg durch das Dach und die Mauern gefunden. Überall Dreck. Egal, was er anfasste oder wohin er sich bewegte, alles verursachte unerträgliche Staubwolken.
Olaf wollte schnell wieder aus dem Haus, hier hielt ihn nichts, keine schönen Erinnerungen an Kindertage, vor allem nicht an liebevolle Eltern. Nur den Papierkram, den er in einer Schublade in dem Wrack des Küchenschranks findet, blätterte er schnell durch, um sicherzugehen, dass auch hier nichts Wertvolles darunter war. Das konnte er sich ohnehin bei bestem Willen nicht vorstellen. Alte Bücher, vergilbte Postkarten von vergessenen Ferien, Briefe aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Absendern, die ihm nichts bedeuteten, dazu jede Menge belanglose Zettel. Weg damit. Offizielle Dokumente wie zum Beispiel den Entlassungsschein des Großvaters aus der Kriegsgefangenschaft oder die Geburtsurkunde von seinem Vater aus dem Jahr 1946 wollte er lieber aufheben, man wusste ja nie, wofür.
Als er die gefalteten Urkunden zur Seite legen wollte, fiel ein loses Blatt heraus. Das Material des Papiers war grob und grau, wie Papier nach dem Krieg wohl gewesen war. An den Rändern hatte es kleine Einrisse. Es handelte sich um ein Schriftstück in altmodischer, verwaschener und verwackelter Schrift, als sei es dem Autor nur mit Mühe gelungen, den Text zu verfassen. Die Worte waren schwer lesbar. Am oberen Rand des Blattes konnte Olaf die Worte Wichtige Notiz entziffern, die im Gegensatz zum Rest des Textes in säuberlicher Druckschrift geschrieben waren.
Er fragte sich, ob es die Mühe wert war, das alte Ding zu lesen. Wahrscheinlich ein Schriftstück, das vielleicht vor sechzig Jahren oder mehr wichtig gewesen war, aber heute mit Sicherheit irrelevant und wertlos war. Er wollte es zerknittern, aber dann erwachte doch noch seine Neugier. Er drehte das Papier um und sah, dass es auf beiden Seiten beschrieben war. Er zog es nahe an seine Augen heran und begann zu lesen, mühsam und langsam, Zeile für Zeile. Nachdem er damit fertig war, ging sein Atem schwer. Er las es noch einmal, Wort für Wort, mit ungläubigem Staunen.
Das mehrstöckige Gebäude vor dem Olaf stand, wirkte kalt und bedrohlich.
Er konnte kaum glauben, was der Großvater geschrieben hatte. Wenn es stimmte, was er gelesen hatte, würde sich sein Leben schlagartig ändern. Heute würde es sich entscheiden, ob er für den Rest seines Lebens ein reicher Mann sein würde. Es sei denn, er war einer Lügengeschichte aufgesessen. Er hatte den Großvater nie kennengelernt, aber er erinnerte sich, dass seine Eltern, als sie noch miteinander sprachen, sich manchmal über sein tragisches Ende unterhalten hatten. Der Großvater soll in den letzten Wochen vor seinem Tod nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen sein. Die Großmutter, die er als Kind noch gekannt und geliebt hatte, hatte erwähnt, dass ihr Engelbert manchmal wirres Zeug geredet hatte, nachdem er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückgekommen war. Er habe Dinge behauptet, die man einfach nicht ernst nehmen konnte. Vielleicht gehörte das, was in dieser Notiz stand, dazu. Als er wegen der verschleppten Lungenentzündung gestorben war, hatte man wahrscheinlich alles, was er in seinen letzten Tagen oder Wochen von sich gegeben hatte, den Wahnvorstellungen eines Sterbenden zugeschrieben.
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