Er hat in der letzten Zeit genug gelitten, er ist immer noch nicht völlig von der Lungenentzündung genesen, die ihn in dem Gefangenenlager in den Wiesen am Rhein heimgesucht hat. Dort hat er über Monate dahinvegetiert. Es war die härteste Zeit gewesen, die er in seinem Leben durchgemacht hat. Schlimmer als die Zeit als Soldat, wo es manchmal mit der Verpflegung auch nicht so toll war, aber es immer irgendetwas gab, das satt machte. Einige seiner Kameraden waren in dem Lager elendig zugrunde gegangen. Die, die starben, wurden ohne Zeremonien und Feierlichkeiten in aller Eile vergraben, um die Verbreitung von Seuchen zu vermeiden. Es war ein kaltes und nasses Frühjahr gewesen und die Gefangenen hatten nicht gewusst, wie sie sich vor dem Regen und dem Wind schützen sollten. Es waren zu viele Menschen, die auf einem zu kleinen Gelände zusammengepfercht waren. Ihm war es vorgekommen, als müssten sie allein die Zeche für den verlorenen Krieg bezahlen. Dabei waren ihm und seinen Mitgefangenen die Gräueltaten der Nazis nicht wirklich bewusst, die waren in der Truppe nie ein Gesprächsthema gewesen. Die kamen erst in den Monaten nach Kriegsende nach und nach ans Tageslicht. Damit hatte er als einfacher Soldat nichts zu tun gehabt, und im Vergleich zu den Verbrechen der Nazi-Elite in Berlin kam ihm die Sache mit dem Schmuck, den sie von den Reichen eingesammelt hatten, eher harmlos vor.
Die Wachsoldaten im Lager waren nicht so bösartig, wie man es kurz nach dem Ende eines mörderischen Kriegs befürchten konnte. Sie waren jedoch durch die Menge der Inhaftierten und den Mangel an sanitären Anlagen total überfordert. Es war nicht ihre Schuld, dass es nicht genug Decken gab, sodass die Insassen des Lagers nachts oft vor Kälte wimmerten. Einige von ihnen steckten den Gefangenen sogar gelegentlich Zigaretten zu, die sie von ihren eigenen Rationen abzweigten. Das war auch ihm passiert und er hatte die Marlboros trotz seiner aufkeimenden Lungenentzündung hastig und dankbar geraucht. Der Soldat, der sie ihm gegeben hatte, hatte ihn dabei mitleidvoll angelächelt und gesagt: »I’m so sorry for you. But lucky you, I don’t smoke.«
Er hat das alles überlebt, aber wenn er heute in sich hinein-hört, weiß er, dass längst noch nicht alles wieder gesund ist, was in seinem Körper Schaden genommen hat. Er wird die besten Ärzte suchen, damit sie ihn endlich heilen. Dafür braucht er Geld, wahrscheinlich viel Geld. Wenn das mit Hilfe der im Tunnel versteckten Wertgegenstände geschehen ist, wird es endlich Zeit für ein bisschen Freude im Leben, von dem er sich noch viele Jahre erhofft.
Er muss den Schatz, wenn er ihn ausgegraben hat, wieder verstecken, an einer Stelle, bei der er sicher ist, dass ihn niemand dort suchen wird. Es muss ein Ort sein, der in der Nähe von seinem Zuhause liegt, um sich nach Bedarf bedienen zu können. Er hat seine Kindheit und Jugend in Remagen verbracht, ist mit seinen Freunden zwischen Felsen und hinter Büschen herum-gekrochen, deshalb hat er eine Vorstellung, wo das sein könnte.
Er betet, dass alles so abläuft, wie er es geplant hat.
Endlich wollte Olaf die alten Sachen aufräumen. Den wertlosen Krempel entsorgen, der seit eh und je in der leeren Wohnung herumlag, der nur noch Spinnen dazu diente, Netze zwischen ihm zu weben. Jetzt, wo sein Vater seit zwei Jahren tot war, brauchte er keine Hemmungen mehr zu haben. Der alte Mann war auf tragische Weise umgekommen, ein Raser hatte ihn auf einer kurvenreichen Landstraße bei Wachtberg im falschen Moment überholt. Beide konnten einem entgegenkommenden Lastwagen nicht mehr ausweichen. Im Krankenhaus hatte man ihn drei Tage am Leben halten können, dann war alles sehr schnell gegangen. Dass der Raser dabei auch zu Tode gekommen war, war nur gerecht. Alles sehr traurig, aber das Leben musste weitergehen.
Das Haus war fast noch in dem Zustand, wie es sein Großvater Engelbert Bergmeister kurz nach dem Krieg hinterlassen hatte. Olafs Vater hatte nie Anstalten gemacht, es zu renovieren, er lebte in dem Haus bis zu seinem Ende und hob alles auf, was vom Großvater darin geblieben war, und zusätzlich das, was in seinem eigenen Leben dazugekommen war. Nachdem der Vater gestorben war, war Olaf durch das Haus gegangen und hatte alles herausgeholt, was ihm Wert zu haben schien. Das war nicht viel, antike Möbel oder Schmuck erst recht nicht. Wenn es etwas von Wert darin gegeben hätte, hätte der Vater es längst verscherbelt, um seine Rechnungen in den Gastwirtschaften von Remagen zu bezahlen.
Das Haus war ein kleines, altes Gebäude, eingeklemmt zwischen ebenso kleine und unansehnliche Gebäude im ältesten Teil der Stadt. Von hier war es nicht weit zum Rhein und zu den Kneipen, wo der Vater den größten Teil seiner Freizeit verbracht hatte. Olaf war lange vor dem Tod seines Vaters aus dem Haus ausgezogen und hatte sich in der Nachbarschaft eine kleine Wohnung gemietet. Nun stand das Haus leer und verfiel immer mehr und damit auch sein Wert. Die Leute in der Straße behaupteten, das Haus sei ein Schandfleck in der Nachbarschaft, es sei an der Zeit, dass etwas damit passiere. Das müssen die gerade sagen, hatte Olaf sich beruhigt, ihre Häuser sehen auch nicht viel besser aus.
Die Mutter hatte den Vater vor Jahren verlassen, sie war mit einem jüngeren Mann durchgebrannt. Olaf hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in seiner eigenen Wohnung gewohnt und sich längst daran gewöhnt, ohne ihre Fürsorge auszukommen. Sie lebte jetzt, soweit er wusste, irgendwo im Süden Europas. In den ersten Jahren nach der Trennung war wenigstens zu Weihnachten eine Postkarte von ihr gekommen, aber das hatte inzwischen aufgehört. Dass sie noch lebte, war alles, was er von ihr wusste, er hatte ihre Anschrift und E-Mail-Adresse in einem Verzeichnis im Internet gefunden. Er hatte sich kurz überlegt, ob er ihr eine Mail schicken sollte, den Gedanken aber wieder fallen gelassen. Er konnte heute verstehen, dass die Mutter das Weite gesucht hatte, als sich die Gelegenheit durch einen anderen Mann geboten hatte. Sie hatte es wohl satt, jeden Abend in der Wohnung auf ihren Mann zu warten, bis er von seinen Kneipentouren zurückkam. Kneipen hatte es damals in Remagen in Hülle und Fülle gegeben, es sollen vor dreißig, vierzig Jahren an die hundert gewesen sein. Kein Wunder, dass der Vater schwer den Weg nach Hause gefunden hatte. Die Mutter jedenfalls hatte ihre Familie in Remagen hinter sich gelassen, als ob sie nie Teil ihres Lebens gewesen war. Olaf hatte sich damit arrangiert und sich daran gewöhnt, keine Mutter mehr zu haben.
Nachdem er das Haus geerbt hatte, war es nie seine Absicht gewesen, dort einzuziehen. Dafür waren die Erinnerungen an seine Kindheit nicht schön genug. Um es zu verkaufen, hatte er sich an einen Makler gewandt, der ihm klar machte, wie wenig Geld er für dieses Haus in seinem vernachlässigtem Zustand erwarten konnte. Daraufhin hatte er das Haus vom Markt genommen und gehofft, dass steigende Immobilienpreise das Problem lösen würden. Das war nicht geschehen, ganz im Gegenteil, es wurden in der Nachbarschaft ständig ähnlich renovierungsbedürftige Häuser zum Verkauf angeboten, die nur schwer Käufer fanden.
Das war ihm mittlerweile gleichgültig, er war das Warten auf steigende Immobilienwerte leid. Er wollte das Haus um jeden Preis loswerden, denn in Anbetracht seiner finanziellen Lage war ein bisschen Geld besser als überhaupt kein Geld. Sein Großvater war früh gestorben, als er beinahe noch ein junger Mann gewesen war. Welch eine traurige Geschichte. Er überlebte den Krieg und die Gefangenschaft und heiratete kurz nach dem Krieg seine Gerlinde. Das hatten sie sich schließlich versprochen, bevor er zur Armee eingezogen wurde. So waren die Menschen damals eben, vor allem wenn sie gute Katholiken waren wie die Großmutter. Ein Eheversprechen war ein Versprechen für die Ewigkeit, selbst wenn ein Weltkrieg dazwischenkam. Es soll für die Zeit kurz nach dem Krieg eine prunkvolle Hochzeit gewesen sein. Die geladenen Gäste hatten sich wohl über den Glanz des Festes gewundert, aber es war nicht überliefert, dass sich jemand über die großzügige Bewirtung beschwert hatte. Die alten Leute in der Stadt, die dabei gewesen waren und noch lebten, schwärmten davon, wenn sie über die guten alten Zeiten sprachen. Zeiten, die nach heutigem Maßstab alles andere als gut gewesen waren.
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