Er nahm sein Taschenmesser aus der Jacke und klappte es auf. Es war stabil und etwas größer, als ein Taschenmesser unbedingt sein müsste. Er hatte es immer bei sich. Aus Sicherheitsgründen. Sicherheit wovor? Konnte er nicht sagen, spielte keine Rolle, einfach so, wegen der Sicherheit eben. Er tastete sich an der Wand entlang. Nach links, es war ihm vorgekommen, als hätte es dort zuletzt Bewegung in den Sträuchern gegeben. Seine Hände ertasteten die Felswand. Sie war rau und feucht. Plötzlich, er griff ins Leere. Er blieb stehen. Atmete tief ein. Ganz ruhig bleiben, sagte er sich. Er ging einen Schritt weiter. In der Wand war eine Öffnung. Er konnte sie nicht sehen, nur spüren. Die Luft war anders, frischer, er fühlte einen Luftzug. Er streckte beide Hände aus, fand links und rechts Halt und machte zögernd einen Schritt in die Öffnung hinein. Der Luftzug wurde deutlicher. Er spürte es in seinem Gesicht. Es musste einen Gang in den Berg hinein geben. Vorsichtig ging er weiter. Nach drei Schritten blieb er stehen und lauschte. Ein Wassertropfen traf seine Stirn. Wie feucht es hier war. Er hielt den Atem an. Er glaubte, ein kratzendes Geräusch zu hören. Da musste jemand sein. Die Geräusche mussten von dem Mann verursacht werden, der zwischen den Büschen verschwunden war. Wieder machte er vorsichtige Schritte. Er sah einen schwachen Lichtschein nur wenige Meter vor sich. Das musste die Taschenlampe sein, die der Mann bei sich gehabt hatte. Er blieb stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, umzukehren. Nein, er musste herausfinden, was hier vor sich ging. Er griff sein Taschenmesser fester. Er hatte immer geahnt, dass er einmal in eine Situation geraten würde, in der er es brauchte. Vielleicht war das jetzt der Fall.
Maximilian war neun, Torsten elf. Sie waren Brüder und sich meistens einig, was sie gegen den Willen ihrer Eltern tun wollten. Am liebsten spielten sie im Wald, der nur wenige Schritte von ihrem Haus begann. Die Schule lag für heute hinter ihnen, die Eltern waren nicht zuhause. Der Vater arbeitete als Krankenpfleger im Schlaflabor im Remagener Krankenhaus, wo er es täglich mit unausgeschlafenen und schlecht gelaunten Leuten zu tun hatte. Er selbst schlief manchmal auch nicht gut, und wurde in solchen Nächten dazu noch von wirren, manchmal auch grausamen Träumen gepeinigt. Er wachte dann am Morgen erschöpft auf, schimpfte erst auf seine Träume und danach mit den Kindern, die nicht wussten, womit sie das verdient hatten. Seine Frau riet ihm an solchen Morgen, sich selbst einmal im Schlaflabor behandeln zu lassen.
»Als ob das was hilft, die meisten Kollegen leiden selbst unter Schlafschwierigkeiten. Wenn die sich alle im Schlaflabor behandeln lassen würden, hätten wir keine Betten mehr für Patienten frei. Auf jeden Fall helfen uns eigene Schlafprobleme, unsere Patienten besser zu verstehen.« Frau und Kinder versuchten an solchen Tagen, ihm so wenig wie möglich in die Quere zu kommen. Die Mutter von Maximilian und Torsten war in der Verwaltung des Arp-Museums in Rolandseck angestellt. Sie liebte ihre Arbeit, hatte aber oft ein schlechtes Gewissen, denn als Mutter von zwei Jungen sollte sie ihnen eigentlich mehr Zeit widmen können. Hin und wieder musste sie geschäftlich verreisen, das ließ sich nicht vermeiden, wenn man einen Arbeitsplatz mit Verantwortung hatte. Wenn sie von diesen Reisen nach Hause kam, war sie erleichtert, wenn sie ihre Kinder munter und gesund antraf. Meistens passte während ihrer Abwesenheit jemand aus der Verwandtschaft auf die Jungen auf. Doch wenn sich das nicht arrangieren ließ, hatten Maximilian und Torsten große Freiräume, Dinge zu unternehmen, die den Eltern nicht recht wären, wenn sie davon Kenntnis hätten.
Heute war so ein Tag, an dem sie den Nachmittag unbeaufsichtigt für sich hatten, und Maximilian und Torsten wollten etwas erleben. Im Wald. Zu Stellen gehen, wo Kinder eigentlich nichts verloren hatten.
»Ich weiß was«, sagte Torsten, als sie überlegten, was sie unternehmen wollten.
»Was denn?«
»Wir gehen zu der Ruine von dem alten Haus oben im Wald, das früher mal ein Hotel oder so was war. Wo die Leute immer Ausflüge hin gemacht haben und auf den Rhein runtergeguckt haben.«
»Du meinst das Haus, wo es so gruselig ist. Mama und Papa wollen nicht, dass wir da alleine hingehen. Sie sagen immer, da ist es gefährlich, weil im Boden Löcher sind, wo früher Treppen in den Keller gegangen sind. Außerdem soll es da giftige Schlangen geben.«
»Das sagen die nur, um uns Angst zu machen, und auf die Löcher im Fußboden passen wir einfach auf. Und wir brauchen ihnen ja nicht zu sagen, dass wir da waren. Haben wir das letzte Mal ja auch nicht.«
»Und was sollen wir da?«
»Einfach drin herumstöbern. Mal schauen, was es da noch so gibt. Was sich da verändert hat seit dem letzten Mal. Da soll sogar ein Schatz versteckt sein.«
Torsten wusste natürlich, dass in der Ruine im Wald kein Schatz versteckt war, aber er wollte seinem kleinem Bruder das Abenteuer schmackhaft machen. Sie gingen die Straße hinauf, ihr Ziel war von ihrem Elternhaus nur eine gute Viertelstunde entfernt und dann noch ein paar Meter in den Wald. Sie kamen an den Parkplatz, der von Spaziergängern benutzt wurde, wenn sie in den Wald oder über die Felder gehen wollten. Dort begann auch ein Waldlehrpfad, der an dem alten jüdischen Friedhof vorbeiführte, der sie nicht besonders interessierte. Sie bogen auf einen kleinen unscheinbaren Weg zwischen den Bäumen ab, den man leicht übersehen konnte. Nach wenigen Metern kamen sie an einem Ameisenhügel vorbei. Maximilian hob einen Stock vom Waldboden auf und stocherte darin herum. Panik brach bei den Tieren aus, sie rasten aufgeregt auf der Oberfläche ihres Zuhauses in alle Richtungen hin und her. Maximilian fand das total spannend.
»Lass das«, rief Torsten. »Du weißt ganz genau, dass man das nicht soll! Das ist für die Ameisen so, wie wenn es in unserem Haus ein Erdbeben gibt.« Das hatte er letzte Woche im Biologie-Unterricht gelernt.
»Ich finde es toll, wenn die Ameisen so wild herumrennen. Das kann ihnen bestimmt nicht schaden, das hält sie fit. Mama sagt doch auch immer, wir sollen viel herumlaufen, dann bleiben wir gesund.«
»Ich sag noch mal, lass das. Jetzt komm endlich weiter!«
Maximilian schlug bockig mit dem Stock noch einmal auf den Ameisenhügel und schleuderte ihn dann in den Wald. Sie gingen weiter und kamen zu einem kleinen Tümpel, eigentlich nur eine große Pfütze, die vom letzten Regen übriggeblieben war. Torsten ging nahe an das Wasser heran. Es machte platsch, ein Frosch sprang ins Wasser und tauchte weg. Er trat noch einmal mit dem Fuß auf den Waldboden, ein zweiter Frosch sprang seinem Kollegen hinterher und verschwand ebenfalls in der schlammigen Brühe.
»Du bist blöd«, sagte Maximilian. »Mir hast du gerade gesagt, ich soll die Ameisen in Ruhe lassen, und jetzt machst du dasselbe mit den Fröschen. Das soll man bestimmt auch nicht tun, vielleicht brüten die gerade.«
»Du spinnst ja wohl, Frösche brüten doch nicht. Die freuen sich, wenn sie mal zu ihren Weibchen ins Wasser springen können. Aber davon verstehst du nichts. Dafür bist du zu jung.«
Sie erreichten endlich das Gelände, auf dem ein ehemals stattliches Gebäude am Verwittern ist. Das Anwesen hatte sein Verfallsdatum deutlich überschritten. Es war die Ruine einer Gastwirtschaft. Früher war sie ein beliebtes Wanderziel gewesen, die Besucher genossen den Ausblick ins Rheintal und auf das Siebengebirge bei Kaffee und Kuchen. Davon war heute jedoch nichts mehr zu erkennen, Bäume und Büsche waren unkontrolliert gewuchert, wo bis vor ein paar Jahrzehnten freie Sicht gewesen war. Es gab immer wieder Pläne, das Gebäude wiederzubeleben, aber alle guten Absichten hatten sich durch finanzielle oder andere widrige Umstände nicht realisieren lassen. Als jemand die schöne Idee hatte, hier ein Sanatorium oder eine Kurklinik einzurichten, hatte ihm die Gesundheitsreform einen Strich durch die Rechnung gemacht, weil sich nicht mehr viele Leute eine Kur leisten konnten.
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