Der Professor schüttelte den Kopf.
»Nein, außer dir ist keiner angekommen, aber kein Wunder. Mistwetter draußen. So, wie wär’s mit einem kleinen Keks? Interessiert mich schon, der Colonel? Hmh?« Er nahm die Brille ab und putzte sie.
»Bist du einer von den Talmann-Wiesnatts?«, fragte er und setzte die Brille wieder auf, während er Fred aufmerksam musterte.
Fred nickte. »Mein Vater ist Heribert Wiesnatt und meine Mutter Rosabell Talmann.«
»Oh, die schöne Rosabell!«, rief der Professor begeistert. »Nie gesehen, aber viel davon gehört. Na ja, ein Studiosus wie ich heiratet selten, ich nie. Warte mal.«
Er sprang zu einem roten Knopf und drückte darauf. Kurz danach erschien eine winzige weiße Maus.
»So spät noch Wünsche, Professor?«, fragte sie. Da sah sie Fred. »Oh, ein Gast!« Die Maus schlug die kleinen Pfoten vors Gesicht. »Professor! Das hätten Sie mir sagen müssen. Ich muss das Gästezimmer richten. Ach du meine Güte … « Aber Professor Lofti hielt die weiße Maus einfach am Arm fest und stellte die beiden einander vor. So erfuhr Fred ganz nebenbei, dass die weiße Dame nicht nur Blanche hieß, sondern auch vor langer Zeit von Professor Lofti aus einem Labor gerettet worden war.
»Tragische Geschichte«, meinte der Professor kopfschüttelnd. »Nebenbei gesagt, wir haben damals viele gerettet, aber die meisten sind danach ausgewandert. Blanche wollte bleiben. Na ja, ist auch besser so. Sie hält hier alles in Schuss und macht die besten Käsespätzle der Stadt.«
Der Professor nickte kurz, und Fred folgte ihm durch die Wohnung, vorbei an blubbernden Glaskolben mit irgendwelchen bunten Flüssigkeiten und vielen Flaschen, Tiegeln und Tuben. Da hingen Kräutersträuße von der Decke, und es duftete undefinierbar nach einer Mischung aus Jasmin, Chemie und Pfeifentabak.
»Übrigens, mit Schwarzpulver arbeite ich nur im Flur«, sagte der Professor gerade. »Sonst würde hier ja alles auseinanderfliegen.« Aha! Fred nickte, wusste aber überhaupt nicht, was der Gelehrte damit meinte.
»Ach so, du kennst das gar nicht. Man sieht’s dir an.« Er lächelte, dann redete er weiter.
»Schwarzpulver explodiert, wenn man es entzündet. Oben in der Apotheke haben sie eine Menge davon, deshalb wohne ich hier. Alle Chemiker oder Erfinder großer Dinge wohnen unter oder neben Apotheken. Ist ganz praktisch, man hat alles nahe dabei, man muss allerdings auch lesen können.«
Fred nickte, lesen konnte er, seine Mutter hatte es ihm beigebracht. Trotzdem verstand er fast nichts von dem, was auf den Gefäßen stand, Acidum nitricum oder Natrium Chlorid zum Beispiel oder Ignatia und Arnica montana .
Inzwischen hatten sie eine gemütliche Sofaecke erreicht, und der Professor zündete sich ein Pfeifchen an. Würziger Tabakduft erfüllte bald darauf den Raum, und wäre der Professor nicht so verkohlt gewesen, hätte Fred die Explosion beinahe vergessen können. Aber Lofti schien sein Äußeres überhaupt nicht zu interessieren, er wollte endlich wissen, warum Fred gekommen war.
Fred nahm einen Keks vom Teller und knabberte daran.
»Ich weiß nicht, Professor, sollten wir nicht besser auf den Colonel warten?«, fragte Fred unsicher. »Ich kann Ihnen zwar erzählen, warum wir hier sind, aber der wirkliche Experte ist der Colonel.«
»Papperlapapp, jetzt oder nie. Wenn er noch kommt, soll er die Geschichte meinetwegen noch einmal erzählen. Wenn nicht, na ja. Mäusepech. Immerhin, mein Junge, hast du es bis zu mir geschafft. Scheinst ein Glückspilz zu sein.« Er zog an seiner Pfeife und grinste zuversichtlich. Fred schluckte die letzten Krümel herunter, räusperte sich und überlegte. Die Sache war gar nicht so einfach.
Außerdem machte er sich inzwischen große Sorgen um den Colonel, der außerdem auch noch sein Großonkel war. Fred mochte den alten, knorrigen Gesellen, der sich im Museum auskannte wie kein Zweiter und auch die Idee hatte, den Professor um Hilfe zu bitten. Gerade als Fred Luft holte, um dem Professor zu berichten, erklang der hohe Ton der Türglocke. Ohne auf den Professor zu achten sprang Fred vom Sessel auf und rannte zur Haustür. Er ahnte, nein, er wusste, wer vor der Tür wartete – und richtig. Blutend und völlig erschöpft taumelte der Colonel seinem Großneffen in die Arme.
»Fred, Gott sei Dank, dass du es geschafft hast. Es war die Hölle, mein Junge, die Hölle. Ich bin den Ratten nur mit knapper Not entwischt.«
Fred zog den Colonel in den Flur und knallte mit dem Fuß die Tür zu. Blanche und der Professor warteten schon auf die beiden Abenteurer.
»Kommen noch mehr?«, wollte die weiße Maus wissen, während Fred seinen Großonkel zur Sitzecke führte.
»Nein, Blanche«, meinte Leonardus Lofti und nahm eine Flasche aus dem Regal. »Aber ich möchte dich bitten, zwei Gästebetten zurechtzumachen. Vielleicht auch ein heißes Bad, der Onkel von Fred möchte bestimmt gleich baden!«
»Dazu bleibt keine Zeit«, keuchte der Colonel. »Die Ratten aus der Kanalisation von vorhin waren schon schrecklich, aber was ich Ihnen gleich erzähle, Professor, übertrifft an Grauen Ihre schlimmsten Erwartungen. Wir benötigen dringend Ihre Hilfe, und zwar schnell.«
Professor Lofti nahm Gläser aus dem Schrank und goss allen dreien eine klare Flüssigkeit ein.
»Gut Ding braucht Weile«, sagte er philosophisch und hob sein Glas.
Dankbar nahm sich Fred auch ein Glas vom Tisch, und selbst der Colonel, dem seit vorhin ein Ohrzipfel fehlte, sagte nicht Nein.
Nachdem alle drei getrunken hatten, nahm Professor Lofti seine Pfeife wieder zur Hand.
»So«, sagte er bedächtig, »jetzt langsam und schön der Reihe nach. Ich muss jedes Detail wissen, wenn ich helfen soll.«

DIE ÄGYPTISCHE
KATZENMUMIE
Der Colonel gab sich große Mühe, so genau und ausführlich wie möglich zu berichten, und noch Jahre später hätte Fred fast jedes Wort wiederholen können. Er war schließlich dabei gewesen, als die Katzenmumie aus Bubastis in Ägypten geliefert wurde. Er, Fred, hatte zusammen mit seinem Großonkel alles aus sicherer Entfernung beobachtet. Und selbst jetzt konnte er sich noch an die Schriftzeichen auf dem kleinen Sarkophag der Katzenmumie erinnern, das Entziffern war schließlich sein Hobby.
Damals, im Frühjahr, war die Lieferung aus Ägypten genauso normal gewesen wie ein antiker Topf oder eine prähistorische Vase. Normalerweise wurden alle Gegenstände von der Museumsleitung mit einer Nummer versehen und in eine Vitrine oder ein Regal gestellt. Da blieben sie dann für Monate, manchmal sogar Jahre. Aber in diesem Fall spukte es ganz mysteriös im Museum, kurz nach der Katzenmumienlieferung. Später passierten dann schlimme Dinge, überwiegend im Sommer und meist bei Nacht.
»Es begann tatsächlich mit der Katzenmumie. Ein paar Wochen danach bekamen wir Probleme mit der Katze des Museumswärters«, sagte der Colonel gerade. Er hatte wieder nach seinem Glas gegriffen und drehte es nachdenklich in den Pfoten.
»Die Katze und wir hatten ein Abkommen. Sie ließ uns in Ruhe, und wir knabberten nichts im Museum an. Das mussten wir ja auch nicht, wie Sie wissen. Wir leben schließlich seit Generationen in diesem alten Gemäuer und hatten uns seit ewigen Zeiten aus dem Garten und der Museumsküche ernährt. Die Räume des Museums dienten uns lediglich zu Studienzwecken. Jeder in der Stadt weiß, dass der Bildungsstand einer Museumsmaus ungeheuer hoch ist. Selbst Sie, Professor, kommen ja aus einer angesehenen Museumsfamilie.«
Lofti nickte bestätigend. Er hatte sich zwar vor Jahren von der Archäologie abgewandt und sich mehr seinen Erfindungen gewidmet, aber ohne die Wissensgrundlage der Museumsmäuseschule wäre er nie so weit gekommen.
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