»Das ist toll. Ich freue mich so«, jubiliert Mutter. »Ich wusste, dass mein Junge Erfolg im Leben haben würde.«
»Respekt, Timo«, freut sich auch Vater. »Du hast es den Deppen von der Prüfungskommission gezeigt. Ein Singer lässt sich vom System nicht kleinkriegen.«
Innerlich zieht sich mir alles zusammen.
»Ich finde es natürlich auch aus finanziellen Erwägungen toll, dass du dein Studium beendet hast«, frohlockt er.
»Warum, Gerhard?«
»Na, ich brauche dich nicht mehr zu unterstützen. Du hast doch eine Stelle als Volontär. Nicht, dass ich dir ungern unter die Arme gegriffen hätte. Aber es entlastet unser Budget doch sehr, wenn du auf eigenen Füßen stehst. Egal, lasst uns ins Wohnzimmer gehen.«
Gott sei Dank habe ich für heute das Kapitel Magisterprüfung abgeschlossen. Denke ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber es kommt immer schlimmer, als man denkt. Dabei bin ich kein unverbesserlicher Pessimist, sondern bodenständiger Realist. Und meine etwas reservierte Ansicht über die Freundlichkeit des Lebens bestätigt sich wenige Sekunden später.
Denn im Wohnzimmer sitzt die übliche Bagage, die jede Familienfeier zur Klamaukorgie verkommen lässt. Ich frage mich, ob andere Menschen auch so peinliche Verwandte haben wie ich, kann es mir aber beim Willen nicht vorstellen.
Zunächst thront am Kopfende des Esstisches Opa Günter. Sein Eichenstock mit Drachenkopf lehnt am Tisch. Eigentlich braucht der mittlerweile achtzigjährige Unternehmer keine Gehhilfe. Er denkt aber, er müsse sich seinem Alter gemäß verhalten, deshalb der Stock. Daneben sitzt Oma Ilse. Sie ist zwei Jahre älter als Opa, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Zumindest aus der Ferne. Diverse Operationen bei Dr. Lappmann, Hannovers Schönheitschirurg Nummer eins, machen es möglich. Mit fünfundsiebzig hat sie sich die Brüste machen lassen, die Haut am ganzen Körper wurde geliftet, Botox in die Lippen gespritzt, Haare transplantiert und dauerhaft eingefärbt. Das sind die kleinen Korrekturen, die ich mitbekommen habe. Wenn ich sie frage, ob dieses Retuschieren des natürlichen Verfallprozesses notwendig sei, antwortet sie stets: »Jungchen, ich rauche nicht, trinke nur wenig und gönne mir sonst keinen Luxus.« Recht hat sie. Ihr Leben auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück mit Reitbahn, Schwimmbad und eigenem Gärtner empfindet sicherlich der Großteil der deutschen Bevölkerung als bescheiden.
Daneben besäuft sich Onkel Udo. Das ist Mas Bruder, dem ein Bauernhof in der Nähe der früheren Grenze bei Helmstedt gehört. Onkel Udo trinkt nur eiskaltes, fast gefrorenes Bier und Jägermeister. Etwas anderes kommt ihm nicht in die Kehle, dafür aber reichlich. Keiner kennt ihn nüchtern, da er bereits zum Zähneputzen Jägermeister gurgelt. So meine Theorie. Er ist auch der Grund, warum ich selber keinen Kräuterlikör aus Wolfenbüttel zu mir nehme. Wenn ich die Flasche mit Hirsch sehe, denke ich immer an eine Kirche. Kein Scherz. Das Bild ist schwarzweiß gehalten, also älter. Dort stehen Udos Eltern um das Taufbecken und halten ein kleines fettkrankes Baby in den Armen, das eine Sonnenbrille trägt und an einer Kippe im Mundwinkel saugt. »Wollt ihr Eltern von Udo Kallupke dieses Kind taufen? Paten haben sich leider nicht bereit erklärt, dieses wunderbare Wesen auf seinem Lebensweg zu begleiten.«
»Ja, so machen wir’s«, erklärt Udo Vater und rülpst.
»So soll es sein«¸ erklärt der Pfarrer und kippt vier 1,5-Liter-Flaschen Jägermeister ins Becken.
»Jetzt muss ich dir leider deinen Nuckel wegnehmen, mein kleiner Hosenscheißer«, sagt Vater Kallupke und zieht Klein-Udo die Zichte aus dem Mund, woraufhin Udo bitterlich zu weinen beginnt.
»Kriegst ihn gleich wieder, Sohnemann«, versichert der Altbauer.
Dann nimmt der Pfarrer den Jungen. »Hiermit taufe ich dich, Udo Bernhard Kallupke, im Namen des Vaters, der Sohnes und des Heiligen Geistes. Des Jägermeistergeistes.« Mit diesen Worten taucht er das Baby in die Brühe und hält es drei Minuten in den Likör.
Dann sagt Mama Kallupke: »Sollten wir ihn nicht wieder an die Luft holen?«
Der Alte winkt ab: »Jägermeister hat noch keinem geschadet. Kräuter sind was Gutes, und der Alkohol macht sie länger haltbar.«
Der Pfarrer leckt sich verlegen etwas Jägermeister vom Finger. »Verzeihung, da habe ich anscheinend den Kleinen vergessen.«
Er zieht ihn aus dem Becken, das Kind strahlt erstaunlicherweise über alle vier Backen, dann steckt der Vater ihm wieder die noch glimmende Zigarette in den zahnlosen Mund.
Bei dieser Vision ekelt es mich. Andere ekeln sich auch vor Onkel Udo, denn besoffen verfehlt er beim Pinkeln regelmäßig die Toilettenschüssel und setzt das ganze Bad unter Urin. Aber irgendwie gehört er dazu und wird daher immer eingeladen.
Ich jedenfalls könnte auf den Landwirt gut verzichten. Seine Frau, Tante Gerti, ist eher unauffällig und in der ganzen Familie beliebt. Keiner versteht, was sie an dem Suffkopp findet. Die Aufgaben in dieser Ehe sind klar verteilt: Sie fährt ihn vom Frühschoppen zum Bierbrunch, vom Stammtisch zum Absacker. Immerhin führen sie ein geregeltes Leben.
»Hey, Timo, mir ischt nach Rotsch«, singt oder besser grölt er, als er mich sieht.
»Hallo, Onkel Udo. Alles klar im Schweinestall?« Ich setze ich mich an den Tisch. »Was soll übrigens ›Rotsch‹ heißen? Ist das ein neues Futtermittel für Kühe?«
»Ach Timo«, legt mir Tante Gerti eine Hand auf die Schulter. »Dein Onkel hat etwas zu viel getrunken. Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal selber, was er sagen wollte. Oder, Udo?«
»Sicher weisch ich dasch. Mir ischt nach Rotsch.«
Opa und Oma schauen wie hypnotisiert auf die Tischdecke, als würde diese gleich psychedelische Bilder werfen.
»Unser Timo ist jetzt Magister«, verkündet Gerhard, der mit einer Flasche Sekt aus der Küche kommt. »Das müssen wir feiern.«
Alle setzen sich kerzengerade auf, auch Udo schafft es, sich in die Senkrechte zu hieven.
»Für mich keinen Sekt, nur noch ein eiskaltes Bier.« Er artikuliert sich erstaunlich deutlich.
»Ich halte wenig von diesen sogenannten Geisteswissenschaften«, hebt Opa nun an. »Jura, BWL oder Maschinenbau sind Fächer, mit denen man in der Wirtschaft unterkommen kann. Ich hätte dir bei einem entsprechenden Studium einen guten Posten bei der SMB besorgt. Aber du wolltest nicht. Nun gut. Magister ist besser als nichts. Daher auch von mir die besten Glückwünsche.«
»Dir ist nichts gut genug, weder dein Sohn noch dein Enkel. Timo hat Tag und Nacht gelernt, um es den Professoren zu zeigen. Du solltest stolz sein«, keift Gerhard.
Opa verdreht die Augen und winkt ab.
»Seid ruhig. Wie kann man sich an diesem Tag nur streiten. Mein Geburtstag und Timos Examenstag. Wenigstens heute sollten wir ohne Zank feiern«, bittet Mama.
Alle stoßen an, ich mit – und schäme mich maßlos für meine Feigheit. Selbst vor Onkel Udo. Der Mann ist zwar ein Idiot, aber auf seine Art ehrlich.
»Prostatata!«, tönt er.
»Und warum ist dein permanent alkoholisierter Bruder hier? Du weißt, dass solche Leute nicht dem Niveau der Singers entsprechen.«
»Was?«, fragt Udo.
»Das finde ich garstig«, schaltet sich Tante Gerti ein. »Udo kann doch nichts für sein kleines Alkoholproblem. Er ist krank.«
»Krank im Kopf«, erwidert Opa und stößt mit seinem Stock aufs Parkett.
»Halt die Klappe, du alter Geldsack!«, keift Udo.
Ich nehme mir auch einen Jägermeister. Schmeckt gar nicht so schlecht. Ich kippe einen zweiten hinterher, sonst kann ich das alles nicht aushalten.
»Jetzt hört aber auf. Mir geht es nicht gut«, wirft Mutter ein.
Das bringt die Streithähne zur Ruhe.
»Was hast du denn?«, fragt Oma Ilse.
»Ich habe seit zwei Wochen Schmerzen in der Magengegend. Die kommen und gehen in unregelmäßigen Abständen. Mein Hausarzt hat mir ein Mittel gegen Sodbrennen verschrieben. Das hilft aber nicht wirklich. Ich werde morgen zu einem Facharzt gehen.«
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