„Wir planen Ihre perfekte Reise“, lese ich an einem grauen Dienstagabend in der Reichenhaller Fußgängerzone und könnte blindlings auf den versprochenen Sonnen-D-Zug aufspringen. Um im nächsten Augenblick eilig davonzurennen und laut rauszuschreien: „Bitte alles, nur das nicht“. In einem kleinen Pavillon sitzt einer dieser gemütlichen „Reiseplaner“ und verhökert Kaffeefahrten zum Wilden Kaiser. Er wirbt mit diesem „besonderen“ Spruch. Marke „besonders unerfüllbar“. Denn was ist erstens schon perfekt? Jeder Erdenbürger definiert das für sich differenziert, individuell. Und warum muss es zweitens überhaupt „perfekt“ sein, das Wegfahren, das Wegsein, das Urlaubmachen, das Reisen, das Zur-Not-Tourist-Sein? Wäre der perfekte Aufenthalt in fremden Ländern nicht unglaublich langweilig? Abgesehen davon, dass er bei allen Unwägbarkeiten – gerade on Tour – ohnehin niemals möglich ist, der perfekte Urlaub. Irgendetwas ist doch immer, das einem nicht so sehr behagt – je nachdem, wie intensiv man sich auf Störfeuer einlässt. Und Reiseplaner Karl-Heinz möchte mir den Urlaub immer noch perfekt machen: „Guten Tag, ach was, ach so, ja, jetzt weiß ich es, was genau Ihnen am Adriastrand, ja exakt dort, gut tut. Ich weiß es ganz genau“. Meine Zweifel sind berechtigt. Nein, ich möchte nicht, dass mir jemand meine Route strickt und diese womöglich noch selbstbewusst mit Attributen wie „geplant“ oder „perfekt“ einpackt. Verschlossen und versiegelt. Nein, bitte bloß das nicht. Ich will nicht mal urlauben, ich will reisen, will Unerwartetes, reichlich Neues, belebend Überraschendes, auch Unvorhergesehenes, viel Frisches und erstaunlich Kurioses, will Unplanbares ERleben. Will bleiben, wo ich SEIN kann. Stehen, wo ich SEIN darf. Sitzen, wo ich SEIN finde. Sehen und Staunen, wo ich will. Autark. Ohne Cicerone, der in bester Absicht meint, mir könnte es hier oder dort, womöglich sogar oben besser als unten oder rechts besser als links gefallen.
Darum mein abschließender Tipp für alle, die mit wachen Augen SEHEN wollen, die mit offenen Ohren HÖREN wollen, die mit leisem Mund STAUNEN, mit langsamen Schritten GEHEN, mit wachem Verstand BLEIBEN und mit glühendem Herzen ERLEBEN wollen: Reist! Vorurteilsfrei. Voller Interesse. Mit Bedacht. Nicht triumphierend – „hurra, wieder ein Land erobert“ –, sondern bescheiden, nicht polternd, sondern auf bedächtigen Sohlen, nicht verbrauchend, sondern Ressourcen schonend, nicht fordernd, sondern respektvoll und wenn nötig mit gebührendem Abstand.
Ja, Herr Altmann und alle da draußen: Ich will weltwach sein. Immer, überall, in jeder Lebensphase.
Hans-Joachim Bittner
Im März 1967 wurde ich in Neuwied im Rheinland geboren. Mit 23 Jahren hat es mich nach Bayern verschlagen. Dort habe ich eine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen und Volker kennengelernt. Nach dreieinhalb Jahren haben wir geheiratet.
Petra
Als Kind war ich mit meinen Eltern und den beiden Brüdern an den Wochenenden viel in den umliegenden Wäldern unterwegs. Zu Fuß. Ich erinnere mich, dass ich das Spielen im Freien dem Drinnensein immer vorgezogen habe. Ja, ich hatte eine schöne Kindheit. Wir lebten mit meiner Oma in einem Haus. Platz gab es im Garten zur Genüge. Dafür fielen die Räumlichkeiten etwas kleiner aus. Ein eigenes Kinderzimmer, wie man es heute kennt, gab es nicht. Ich teilte mir mit meinem zwei Jahre älteren Bruder das Wohnzimmer zum Schlafen. Es war mit zwei Schrankbetten ausgestattet. Mein drei Jahre jüngerer Bruder hatte die Freude, mit im elterlichen Schlafzimmer zu sein.
Unsere Küche war auch nicht übermäßig groß für eine fünfköpfige Familie. Und dennoch war für Freunde und uns immer noch Platz genug zum Basteln und Spielen.
Als Jugendliche hatte ich mit Natur oder Sport nicht viel zu tun, da waren Kneipentouren und Rumgammeln angesagt. Mit Volker habe ich dann den Sport und das Reisen entdeckt.
Ich wurde im Mai 1958 in Köln-Fühlingen geboren. Ich lebte mit meinen Eltern und meiner Schwester an einem kleinen Baggersee in der Nähe Kölns. Unser kleines Haus hatte nicht einmal einen Wasseranschluss. Mit einer gusseisernen Pumpe wurde Grundwasser aus dem Boden gepumpt, und jeden Samstag wurde in einer Plastikwanne gebadet.
Unser Anwesen lag hinter einem militärischen Sperrgebiet. Um in den nächsten Ort zu gelangen, mussten wir einen Kontrollposten passieren. Für uns Kinder war das toll, denn es gab keinen Durchgangsverkehr und viel Platz zum Spielen, einen eigenen Kiesstrand am See und große Wälder. Oft sind wir morgens aus dem Haus und erst abends wieder zurück.
Mit meinen Eltern bin ich bis zum 16. Lebensjahr immer in den Bayerischen Wald in den Urlaub gefahren. Dort haben wir an einem abgelegenen Bauernhof gezeltet und sind viel gewandert.
Volker
1984 habe ich eine Ausbildung zum Sozialpädagogen gemacht und war danach viel im Erlebnissport tätig, zum Beispiel beim Sportklettern. Mit 18 habe ich erste kurze Radreisen begonnen – einmal von Köln bis Oslo. Dabei habe ich mich aber nie sonderlich wohlgefühlt, weil mir jemand fehlte, mit dem ich meine Erlebnisse teilen konnte. Das Alleinreisen hat mir keinen Spaß gemacht.
1988 habe ich eine therapeutische Zusatzausbildung als Tanz- und Bewegungstherapeut abgeschlossen. Im gleichen Jahr bin ich nach Berchtesgaden gezogen und habe stets viel Ausdauersport betrieben: Marathon und 100 Kilometer-Läufe, Triathlon, Skibergsteigen …
1992 habe ich Petra kennengelernt. Wir entdeckten unsere Freude an Fernreisen. 1999, rund 20 Jahre nach meiner ersten Radreise, unternahmen wir unseren ersten Fahrradurlaub – und ich war froh, nicht mehr allein reisen zu müssen.

Ungemütlicher Start bei Schnee-, Graupel- und Regenschauern – erster kleiner Halt nach wenigen Kilometern bei einem Supermarkt in Piding bei Bad Reichenhall.
Startschuss: Jeden Abend ein Glas Wein musste sein
Sie leben zusammen, lachen zusammen, freuen sich zusammen ihres Tuns – und haben dabei eine ganz eigene Art gefunden, all das auch gemeinsam zu genießen. Denn hin und wieder steigen Petra und Volker Braun zusammen aus, lassen fast alles hinter sich: ihr Haus, Bad Reichenhall, Deutschland, Europa. Wenn genug zusammen gespart ist, wird kurzum eine Route ausgetüftelt, die Jobs auf Eis gelegt und wenig später losgeradelt: Tausende Kilometer, in bekannte Ecken dieser Erde genauso wie in entlegene, richtig einsame, touristisch unerschlossene. Monate war das Duo schon ohne Unterbrechung unterwegs, einmal zwölf am Stück. Doch was im April 2011 bevorstand, war selbst für die gebürtigen Rheinländer neu: 20 Monate gönnten sie sich für die Route Anchorage (Alaska)-Feuerland (Argentinien/Chile) und wagten sich 2011 damit in letztlich gut 600 mal mehr, mal weniger exponierte Tage.
13. April: Zeitdruckfreier Start an einem Mittwoch: Die mit Gepäck je 50 Kilo schweren Bikes warteten startklar vor der Haustür. Über Österreich ging’s zunächst nach Tschechien, denn „da waren wir noch nicht, und Prag interessierte uns einfach“. Petra unterstrich die Freiheit, die sie sich mit ihrem Volker geschaffen hatte. Vor vielen Jahren. Nach der Goldenen Stadt kam Dresden dran, Fulda als Zwischenstation, dann Leutesdorf bei Neuwied. Der letzte Besuch bei Petras Eltern und Geschwistern, das letzte „Hallo“ vor der großen Überfahrt.
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