„ Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine “.2
Das individuelle ICH musste eine neue Persönlichkeit anziehen und sich dem kollektiven WIR unterwerfen. In meinem Fall geschah dies bereits als ich ein Kind war. Ich ahmte meine Eltern nach. Sie ließen sich von den Forderungen einfangen, die in den vielen Veröffentlichungen der Wachtturm Organisation an sie gestellt wurden. Ich erinnere mich noch sehr gut an das monatliche Mitteilungsblatt mit den Gruppenanforderungen, die unser Leben in den 50er Jahren strukturierten. Das Blatt hieß damals noch Informator, inzwischen Königreichsdienst und enthielt die jeweils aktuellen Aufforderungen zur Tätigkeit an alle Zeugen Jehovas. Es waren Sätze wie die folgenden zu lesen:
„ … müssen wir predigen …
… müssen die Wahrheit verkündigen …
… müssen wachsam und unermüdlich tätig sein …
Wir müssen vorandrängen.
Die verbleibende Zeit ist verkürzt.
Die wahrheitssuchenden Menschen müssen gefunden werden.
Damit uns das gelingt, müssen wir gewandte Prediger sein.
Wir müssen unsere Erkenntnis erweitern.
… müssen wir jedoch eifrig tätig sein.
Du musst auf dem Laufenden bleiben.
Du musst bei den Versammlungen aufmerksam zuhören.
… müssen uns auch vor den feinen Schlingen in acht nehmen.
Vielleicht ist die Schlinge, die dich zu Fall bringen könnte, die Vergnügungssucht oder der Materialismus. Vielleicht verleiten dich Überstunden-Entschädigungen dazu, den Dienst oder die Zusammenkünfte zu versäumen.“
Ein wichtiger Hinweis in der Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders. Wir sollten nicht etwa mehr Zeit dem eigenen, materiellen Fortschritt widmen als dem Predigen und Jünger machen, die wichtigsten Begriffe, die wir in der neuen Bedeutung lernten. Meine Großmutter sagte dazu „Neumitglieder werben“. Es war die Warnung vor Überstunden. Meine Eltern achteten streng darauf, dass sie für unsere materiellen Bedürfnisse nicht mehr Zeit als unbedingt nötig war einsetzten.3
Damals wie heute ist predigen , also die Werbung von Neumitgliedern, das oberste Ziel der Zeugen Jehovas. Die Mehrung der Ressourcen der Watchtower Society. Jeder Neue ist eine Quelle von geldwerten Vorteilen durch den Einsatz an freiwilligen Spenden und unbezahlter Arbeitszeit. Ein Immobilienbesitzer hat normalerweise die Kosten für Unterhalt, Reparaturen, Renovierung, Umlagen etc. zu tragen. Die Immobilien der Wachtturm-Gesellschaft bzw. der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas werden von ihren Mitgliedern in freiwilliger Leistung gebaut, unterhalten, und für die Nutzung der Kongresssäle werden zudem regelmäßig freiwillige Spenden an die Wachtturm-Zentrale gleistet. Dazu kommt der kostenlose Werbeeinsatz von Haus zu Haus, auf den Straßen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zu der Zeit, als sich meine Eltern dieser Gemeinschaft anschlossen, gab es weltweit weniger als 500 000 Mitglieder. Im Jahre 2012 waren es mehr als 7 500 000. Das Konzept ist also erfolgreich umgesetzt worden.
Hätte ich damals auf meine innere Stimme hören können, dann wäre ich dem Vorschlag meines Lehrers gefolgt und hätte eine weiterführende Schule besucht. Doch kurz bevor ich meine Schulzeit abgeschlossen hatte, erschien im Wachtturm vom 1. Februar 1952 die folgende Drohbotschaft, verbunden mit der Abbildung eines flammenden Schwertes:
„ Das Blutbad und die Vernichtung von Harmagedon werden so grässlich sein, dass es jeder menschlichen Beschreibung spottet. Bereits sind die Aasgeier und die wilden Tiere des Waldes und der Zoos eingeladen worden, sich zu erlaben an den vielen Millionen Leichen der Männer, Frauen und Kinder, der Hohen und Mächtigen sowohl wie ihrer sklavischen Diener.“
Etwas später, im Wachtturm vom 15. Mai 1952, wurde das nahe Ende als so nahe beschrieben, dass es nicht mehr wahrscheinlich wäre, ein Hochschulstudium abschließen zu können.
„ Oder wäre es besser gewesen, in den Vollzeitdienst, den Dienst für unsern Gott Jehovas einzutreten? Schaut, weil wir uns geweiht haben, den Willen Gottes zu tun, sind wir nicht wie die andern hier in der Schule, deren einziges Streben es ist, vorwärtszukommen, eine hohe soziale Stellung zu erlangen und einen Haufen Geld zu verdienen. Wir wissen, dass dieses alte System der Dinge in Harmagedon bald vernichtet wird; was für Gründe sprechen also dafür, eine höhere Schule zu besuchen, wenn wir im Felde sein könnten, um andere zu warnen? Und außerdem besteht die große Gefahr, dass man in den Treibsand der Unsittlichkeit gerät oder wegen der gottlosen Zustände an heutigen Schulen seinen Glauben ganz verliert. […] Die Bildungssysteme sind sehr mangelhaft und der laufende Studiengang für einen Christen von wenig praktischem Wert. Die vor Harmagedon verbleibende kurze Zeit sollte so nutzbringend als möglich verbracht werden. Der Druck auf den Glauben und die Lauterkeit eines Schülers von jeder Seite des Schullebens her ist für den Schüler schwer. Von der einen Seite wird seinem Sinn fortwährend die Evolutionstheorie und der Unglaube aufgezwungen, und aus anderer Richtung suchen die Kräfte der Unsittlichkeit seine christliche Grundlage zu untergraben und zu zerstören. Wer offen Stellung nimmt für Gottes Königreich der Gerechtigkeit als des Menschen einzige Hoffnung wird oft boshaft verleumdet, lächerlich gemacht und von der Studentenschar wie von der Lehrerschaft verfolgt. […] alle Unterrichteten werden unbedenklich zugeben, dass in den gegenwärtigen Bildungssystemen manches verkehrt ist …“
Der Kernsatz dieses Wachtturms ist wohl der:
„Es ist gut, wenn du deinem Sinn und auch dem Sinn anderer die Nähe Harmagedons einprägst … Es wird somit offenbar, dass die oben erwähnten Gründe … dafür sprechen, dass man nicht in eine höhere Schule gehe.“ „Denkt daran; Jesus war ein Zimmermann und Paulus ein Zeltmacher, andere waren Fischer … Es ist daher für Glieder der Organisation des Herrn, die ihr Leben dem Königreich geweiht haben, gut, wenn sie sich von einer Teilnahme an Schulsport oder Athletik und von gesellschaftlichen Anlässen der höheren Schulen zurückhalten. Indem sich jemand von den Dingen dieser Welt abgesondert hält, kann er sich zum Felddienste völliger mit des Herrn Volk verbinden.“
Allein dieser eine Artikel enthielt so viel Negatives über das Schulleben und seine Auswirkungen. Natürlich war es da kein Wunder, dass mein Vater strikt gegen den Besuch einer höheren Schule war. Ob die Beschreibung der Zustände an den Universitäten zutreffend war oder nicht, konnte mein Vater nicht beurteilen. Als Kriegshalbwaise konnte er schon von Glück reden, dass seine Mutter ihn nach vier Schuljahren in eine Handwerkslehre gegeben hatte.
Viele akademische Berufe wurden uns im Übrigen so dargestellt, als wären sie für das neue Paradies völlig sinnlos, da es dort weder Krankheit noch Rechtsstreitigkeiten gäbe und auch alle Menschen wieder eine gemeinsame Sprache hätten und vollkommen würden. Ein Universitäts-Studium hätte für die Zeit nach Harmagedon einfach keinen Wert.
Aber war die mangelnde Bildung wirklich der Grund dafür, dass mein Vater dem Überbringer dieser neuen Lehre mehr glaubte als meinem Lehrer? Wieso hat er sich nicht gewundert, dass unsere Lehrer, Ärzte, Apotheker, Architekten und andere Hochschulabsolventen weder unsittlich noch kriminell oder gottlos waren? Auch war das Ehepaar, das bereits vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges mit den Bibelforschern in Verbindung stand, ganz gewiss nicht ungebildet. Sie hatten eine Bäckerei und wurden bald unsere Gönner als wir begannen, regelmäßigen Kontakt mit der Gruppe zu pflegen. Ich ging oft mit ehrfürchtigem Staunen in deren Bibliothek und betrachtete die vielen Bücher. Den großen Brockhaus, die jüdische Geschichte von Josephus, die Werke von Schiller und Goethe, sowie viele Klassiker der Literaturgeschichte. Diese Leute waren sowohl gebildet als auch tief gläubig. Die Frau sagte jeweils: „Ob einer oder keiner, viele oder wenige, es glauben oder nicht glauben, spielt für mich keine Rolle. Wir können sicher sein, dass Gott seinen Vorsatz verwirklichen wird.“ Auch sie glaubte daran, dass sie in der Wahrheit seien.4
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