So intensiv die tief hängende Wolken, Regen und Nebelschleier Alaskas wunderschöne Küste bisher vor uns verbargen, so ähnlich muss die Bettdecke heute Nacht meine Ohren vor dem Reisewecker versteckt haben. Erst jetzt, als lautes Kettenrasseln, schrille Stimmen und aufheulende Motorengeräusche zu vernehmen sind bin ich hellwach und ruckzuck an der Reling. Wir waren in Sitka, und die Crew beim ausladen. LKWs, Wohnmobile, Lieferwagen und PKWs verließen schon rumpelnd ihr Deck, und jenseits der lichtspendenden Lampen war es um 2.45 Uhr noch ziemlich dunkel. Von der Stadt war sowieso nichts zu sehen, denn zwischen ihr und dem Fähranleger liegen etwa elf Kilometer. Und der gestrige Gedanke mit dem Taxi? Der war sofort gestorben, weil auch hier kalter Wind und peitschender Regen alles im Griff haben. Also ab ins Warme, den Wecker auf 4 Uhr 45 stellen und vor dem Ablegen wieder unter die Bettdecke huschen. „Gefühlt“ war diese warme Zeit nicht mehr als zehn Minuten, doch brachten uns die schrecklichen Klingeltöne dennoch wie geölte Blitze auf die Beine. Der Grund: Vor dem Schiff lagen erneut die engen Passagen, die es in der Nacht schon einmal durchfahren hatte, denn mit dem Ziel Juneau geht das nicht anders. Und das wollen wir keineswegs verpassen. Das Wetter lässt sich zwar auch jetzt noch nicht wirklich definieren, aber immerhin ist es trocken.
Sitka hat eine lange, eine russische Geschichte. Vor etwa 8.000 Jahren war der Vulkan Edgecumbe, dessen kegelförmige Silhouette sich im Westen erhebt, ausgebrochen, und auf den Fox-Inseln lebten Aleuten-Jäger. Später war im heutigen Sitka der Kiksadi-Klan der Tlingit-Indianer zu Hause und nannte seine Ansiedlung Shee Atika. 1741 ging der Däne Vitus Bering auf seiner Forschungsreise durch den Nordpazifik als erster Europäer in Alaska an Land und nahm es für seine Heimat in Besitz. Achtundfünfzig Jahre später ließ sich, auf der Suche nach Pelzen, Alexander Baranof sechs Meilen nordwestlich der heutigen Stadt, zu Old Sitka, nieder, und das Fort St. Michael, das die Russen hier erbauten, vernichteten die Indianer 1802 aus Protest gegen ihre Unterdrückung. Baranof, der „Lord of Alaska“, rächte sich grausam. Er brannte die Häuser der Indianer umgehend nieder, übernahm ihren „Castle Hill“, baute zwei Jahre später ein neues Fort und etablierte Sitka, das damals noch Novo Archangelsk hieß. Das Fort fungierte als Zentrale des russischen Pelzhandels und als Hauptstadt von Russisch-Amerika, dessen Bereich sich damals von den Aleuten bis hin zu Fort Ross nördlich von San Francisco zog. Von 1804 bis 1867 war die Russisch-Amerikanische-Company, die in diesem Gebiet das Monopol besaß, die profitabelste Pelzhandelsgesellschaft der Welt und Sitka das „Paris am Pazifik“. Nachdem die Amerikaner am 18.10.1867 den Russen Alaska für 7,2 Millionen US-Dollar abgekauft hatten, wurde es ziemlich still um jenen Ort. Es fand sich zwar noch etwas Gold, kurz später aber nur noch eine Geisterstadt, so das auch die Hauptstadtwürde der Provinz 1900 offiziell von Sitka nach Juneau wanderte, das die Goldsucher Joe Juneau und Richard Harris 1880 gegründet hatten. Während des Zweiten Weltkrieges waren zu Sitka neben 7.000 Zivilisten auch 30.000 Militärs stationiert und danach, 1959, wurde Alaska zum 49. Bundesstaat der USA. Die Russen hatten vor Sitka den Seeotter fast ausgerottet, und Amerikaner und Japaner „ernteten“ vor allem Wale. 1905 bis 1965 sollen es allein hier 28.000 Exemplare gewesen sein. Inzwischen ist von der einstigen Buckelwal-Population weltweit nur noch ein Fünftel verblieben, und die mit 20.000 Tieren gefährdete Art geschützt.
Zurück zur Gegenwart: Mit verhaltener Kraft drücken die Dieselmotoren am frühen Morgen unser Fährschiff aus dem Hafen von Sitka, der als einziger Südostalaskas aufs offene Meer blickt. Und in diese 9.000 Einwohner-Stadt sollten wir tatsächlich Jahre später, und „in umgekehrter Richtung“, nochmals zurückkehren. Heute aber zeigt der Kompass „Nord-Ost“ um in etwa neun Stunden Alaskas Hauptstadt zu erreichen. Weit davor muss die Kennicot zwischen dem Salisbury Sound im Westen und der Peril Strait im Osten wieder durch die „Sergius-Narrows“, die so eng erscheinen, dass man glaubt, die Zweige der Bäume auf Chichagof Island im Norden, und Baranof Island im Süden mit der Hand ergreifen zu können. Ausgefeilte Navigation und exakte Einhaltung des Fahrplanes sind dabei unerlässlich, weil die durch Ebbe und Flut ausgelösten starken Strömungen von 6 bis 8 Knoten selbst die PS-starken Aggregate der Fähren in Bedrängnis bringen könnten. Und deswegen muss das Schiff beim Gezeitenwechsel passieren, weil dann die Strömung durch Umkehr für kurze Zeit ihre Wucht verliert. Aber so weit sind wir noch nicht. Entlang der Westküste der Baranof-Insel zieht das Schiff nach Norden durch die Whitestone-Engen zum Salisbury Sound, wo der Blick nach dem Kruzof-Island auf den Ozean wieder frei wird. Unmittelbar danach dreht die Fähre nach Nordwesten, drosselt ihre Geschwindigkeit und hat die gefährliche Passage vor sich. Rechterhand, nur ein paar Meter entfernt, das Festland der Baranof-Insel an deren Waldesrand ein paar kleine Häuser mit meist roten Dächern wie verlorenes Spielzeug wirken. Einen Bootssteg, an dem weiße und farbige Schiffchen auf den Wellen schaukeln, haben sie aber alle. Scharf links nähert sich eine der vielen kleinen, felsig-schroffen Inseln der Bordwand. Größer als dreißig bis vierzig m 2wird sie kaum sein, doch scheint sich die etwa sechs Meter hohe Solitärtanne, die in ihrer Mitte sattgrün dominiert, als „Platzhirsch“ recht wohl zu fühlen. Und direkt vor jenem Winzling ragt ein Betonpfeiler weit aus dem Wasser. Am freien Ende seines einbetonierten Eisenstabes umrahmt Metall zwei nach links und rechts abgewinkelte „grüne Fenster“, auf denen die Zahl 37 steht. Minimale Wassertiefe, Entfernung oder Streckenabschnitt? Viele ähnliche Seezeichen – mit und ohne Sockel, geradeaus, nach links, rechts oder auf Zick-Zack verweisend – deren Bedeutung wir nicht verstehen, auch links und rechts, vor und hinter dem Schiff. Befestigt an Bojen, herausschauenden Klippen, Landenden und anderen schwimmenden oder festen Konstruktionen. In einer Kurve mit zwei Felsvorsprüngen wird das Schiff noch zusätzlich vom „Ufer“ aus dirigiert, wo mehrere Männer mit langen Stangen hantieren und Kommandos oder Informationen nach oben rufen. Erst muss der schwimmende Koloss nach links, dann rechts herum. Vorsichtig, mal etwas schneller, dann wieder ganz langsam, selten ruckartig tastet sich das Schiff mit hin und her pendelnder Nase und ruhig drehenden Motoren Schritt für Schritt vorwärts bis die Ufer sich wieder langsam entfernen, die Peril Strait erreicht ist und die Fähre nach Südost dreht. Auch hier sieht das Ganze mit seinen hohen Bergen, Felsklippen und Inseln noch eher aus wie eine Sackgasse, doch hat unsere Fähre nun etwas mehr „Luft“ und kann ihre Gangart wieder erhöhen. Was hinter uns liegt war eine kunstvolle Navigation, die die wenigen Gäste an der Reling des Vorschiffes fesselte, und die immerhin 125 Meter Länge durch das felsige Labyrinth bugsieren musste, die mit vier Decks ausgestattet sind. Ganz unten die Fahrzeuge, darüber die Kabinen und der Bereich des „Zahlmeisters“. Eine Etage höher bieten Lounges, Bar und Selbstbedienungsrestaurant ihren Service im Vorschiff an, während das Bordrestaurant entgegengesetzt serviert. Ganz oben lockt schließlich das teils überdachte Sonnendeck mit der besten Aussicht. Und wer als Rucksacktourist vom Anfang bis zum Ende dabei ist, der darf während dieser vier Nächte auf diesem sogar sein kleines Zelt unter Wärmestrahlern aufschlagen.
Und was hält hier der Wettergott für uns bereit? In der Regel unten graues, wogendes Wasser, darüber das bläuliche Schwarz des Küstenwaldes. Zwischen diesem und einem hohen, zurückversetztem Kamm, aus denen verschneite Bergspitzen ragen, ein tief hängendes, zerfetztes Wolkenband, das vor dem Wind zu fliehen scheint. Und dort, wo der verhangene Himmel für kurze Momente ein paar Sonnenstrahlen gewähren lässt, bekommt die Umgebung sofort richtig Farbe. Auf der rechten Seite, aber etwas entfernt, ist das im Moment ein Gletscher, der sich glitzernd vom dunklen Grün abhebt und uns eine Winzigkeit vom wirklichen Alaska gewährt. Und, als hätte es die Regie so vorgesehen, kommt von der Brücke noch die Information, dass sich steuerbords auf 11 Uhr Wale nähern. Es sind drei oder vier Buckelwale, die uns mehrfach ihre Schwanzflosse zeigen. Nahrung finden sie in diesen Gewässern reichlich, doch braucht jeder dieser Vierzig-Tonner davon eintausend Kilo täglich. Nach dem Frühstück sind wir gerade wieder rechtzeitig an der Reling um der Peril-Stait noch einen letzten Blick zu schenken und um dabei zu sein, als unser Schiff ziemlich rechtwinklig nach Norden in Chatham Strait einbiegt. Die ersten, die uns auf diesem Seeweg entgegenkommen und an Alaska erinnern sind zwei Schlepper, die jeweils ein Floß aus einer Menge Baumstämmen hinter sich herziehen. Auch Fischerboote tuckern vorbei und ein weißes Kreuzfahrtschiff steuert südwärts. Rechterhand begleitet uns die Westküste von, Admiralty Island, das im Osten und Norden von der Stephens Passage, im Süden vom Fredericks Sound begrenzt wird. Hügel, dichter Wald, kleine Sumpfgebiete und, oberhalb 600 Meter, alpine Tundra mit Felsnasen und Eisfeldern kennzeichnen das 3.822 Quadratkilometer umfassende Gebiet. Der Ort Angoon, an dessen Hintertür die Wildnis beginnt, wird größtenteils von einem Tlingit-Stamm bewohnt. Admiralty ist, zusammen mit Baranof und Chichagof, die dritte im Bunde der „A-B-C Inseln“, die gleichzeitig auch echtes Bärenland sind, und die Zahl ihrer Braunbären (der Grizzly ist eine Unterart) verführt die Insel dazu, sich der größten Braunbärendichte in der Welt zu rühmen. Genetisch sollen diese Vierbeiner mit keinem anderen Bär in der Welt übereinstimmen, und der Polarbär ihnen am nächsten kommen. Bei den Fressgewohnheiten gibt es allerdings keine Unterschiede. Beeren, Gräser, Lachse, Elch- und Hirschkälber, kleine Säugetieren, Vogeleier und Insekten, das alles steht auch auf ihrer Speisekarte.
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