Postel findet dennoch einen Weg, seinem Ego Genüge zu tun. Schon zwei Jahre später, nach seiner vorzeitigen Entlassung im Januar 2001, schreibt er einen Bestseller: „Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers“. Das Vorwort eines gewissen Dr. Gert von Berg hat Postel natürlich selbst verfasst.
Warum erzähle ich Ihnen die Geschichte von Gert Postel? Weil sie belegt, dass die Motive der Hochstapler ganz andere sind als die der Faker. Beweisführung folgt: Einen Hochstapler haben Sie gerade kennengelernt. Zeit, dass ich Ihnen einen Faker vorstelle.
Mich.
HERZ IN DER HOSE UND SCHLOTTERNDE KNIE
Meine Karriere begann ebenso einfach und unspektakulär wie die von Gerd Postel: Vor 35 Jahren, gleich nach meinem Schulabschluss, machte ich eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Damit haben sich die Gemeinsamkeiten zwischen mir und dem notorischen Hochstapler allerdings auch bereits erschöpft. Wenn wir mal von der Neigung zum medizinischen Sektor absehen. Meine Ausbildung begann mit einem Theorie-Block, der ein halbes Jahr dauerte. Danach hatten wir die ersten Patientenkontakte, und schon nach anderthalb Jahren mussten wir Krankenpflegeschüler auch Nachtdienste in der Klinik absolvieren. Und davor hatte ich einen Heidenrespekt. Um nicht zu sagen: Angst.
Heute wird viel gejammert über den Personalmangel in den Kliniken, aber ich kann Ihnen versichern: Damals war das noch schlimmer. Dass Krankenpflegeschüler allein Nachtdienste schieben mussten, gehörte zur Normalität. Auch in jener schicksalhaften Nacht, von der ich Ihnen erzählen will.
Auf der Nachbarstation gibt es in dieser Nacht zwar eine examinierte Pflegekraft, aber auf meiner Station bin ich bei meinem allerersten Nachtdienst allein – und zuständig für 35 Patienten. Eine der Patientinnen ist eine sehr nette, etwa 60-jährige Dame. Sie hat eine kleine Bagatelloperation hinter sich, nichts Ernstes. Ich sitze gerade im Aufenthaltsraum der Station und hoffe, es möge ruhig bleiben, als sie plötzlich nach mir läutet. Ich eile in ihr Zimmer, noch immer in der Hoffnung, es wird schon nichts weiter Dramatisches sein. Als ich eintrete, die Zimmertür ist noch nicht ins Schloss gefallen, schafft sie es gerade noch zu sagen: „Mir ist nicht gut, ich fühle mich so unwohl …“, da sackt sie auch schon in sich zusammen und bleibt ohnmächtig liegen.
Ein Beweis für die These: Angst zieht Unheil an. Genau davor hatte ich mich gefürchtet, und nun ist es passiert: Bei meinem ersten Dienst allein habe ich es gleich mit einer kollabierten Patientin zu tun. Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich bin vollkommen unerfahren, ich habe gefühlt keine Ahnung von gar nichts. Dies ist mein erster Notfall. Adrenalin flutet meinen Körper. Zum Glück zeigt das intensive Training seine Wirkung, und ich beginne das Programm abzuspulen, das für diesen Fall vorgesehen ist: Ich renne in unseren Stationsstützpunkt, drücke den Notfallknopf und löse damit den Herzalarm aus. Dann schnappe ich mir das Reanimationsset und kehre so schnell wie möglich zu meiner Patientin zurück. Ich denke sogar daran, das Holzbrett unter meine Patientin zu schieben, das zum Reanimationsset gehört. Das ist wichtig, denn bei der Herzmassage darf die Unterlage nicht nachgeben. Ich kontrolliere noch einmal Herz und Kreislauf meiner Patientin und schaue nach, ob sie eventuell dritte Zähne im Mund hat – hat sie nicht. Gut, denn die wären hinderlich bei der Beatmung.
Auf geht’s, Christoph: Der Moment der Wahrheit ist gekommen.
Ich beginne mit der Herzmassage und der Beatmung. Ich weiß, ich muss auf diese Art und Weise den Kreislauf der Patientin aufrechter-halten, bis das Narkoseteam eintrifft, das Nachtdienst hat. Es liegt in meiner Verantwortung, dass die Patientin bis dahin überlebt.
In meiner Verantwortung. Ich bin Krankenpflegeschüler. Ich habe keine Ahnung von gar nichts. Ich habe das noch nie gemacht. Ich muss sie retten. Ich habe keine Ahnung. Ich muss sie retten. Ich habe keine Ahnung. Ich muss …
… einfach nur alles so machen, wie ich es gelernt habe: 15-mal Herzdruckmassage, zweimal Atemspende – das war damals anders als heute –, immer im Wechsel. Schnell bin ich im Rhythmus, und mir kommt das Zeitgefühl abhanden. Hinterher kann ich nicht sagen, ob ich die Patientin nun zwei Minuten wiederbelebt habe oder eine halbe Stunde. Jedenfalls ist irgendwann das Notfallteam da – und kann meine Patientin retten. Sie lebt. Ich wanke aus dem Raum, kaum noch in der Lage, mich auf den Beinen zu halten, so sehr schlottern meine Knie. Erst jetzt, als die Anspannung nachlässt, begreife ich so richtig, was da eigentlich passiert ist. Natürlich haben wir diese Situation in der Theorie immer wieder durchgespielt und an Puppen geübt. Sie kennen das sicherlich aus einem Erste-Hilfe-Kurs. Was Sie dort gelernt haben, unterscheidet sich nicht von dem, was wir für einen solchen Fall beigebracht bekommen haben. Aber fühlen Sie sich fit für einen Notfall, nur weil Sie ein paar-mal auf einer Puppe rumgedrückt haben? Da habe ich eine Botschaft für Sie: Wenn es darauf ankommt, dann sind Sie es tatsächlich.
In jener Nacht hatte ich diese Situation zum ersten Mal wirklich erlebt. Und in mein ganzes Geschlottere mischte sich nach und nach die Erkenntnis: „Ich hab’s geschafft! Es ist das Schlimmste eingetreten, was ich mir vorstellen konnte. Doch ich konnte tun, was nötig und richtig war! Ich konnte helfen, einem Menschen das Leben zu retten!“
In dieser Nacht erkannte ich, dass ich meinen Aufgaben gewachsen war. Innerlich wuchs ich in diesem Moment bestimmt 30 Zentimeter. Und ein paar Tage später noch einmal so viel – als die Patientin von der Intensivstation auf meine Station zurückkehrte und sich überschwänglich bei mir bedankte.
Dafür, dass ich etwas getan hatte, wovon ich vorher nicht gewusst hatte, ob ich es tatsächlich drauf habe.
DER FAKE – DIE EINTRITTSKARTE INS ESTABLISHMENT
Wenn ich heute, 35 Jahre nach dieser Episode, den jungen Menschen anschaue, der ich damals war, dann sehe ich mich als einen wandelnden Beleg dafür, dass der Fake die Welt im Innersten zusammenhält. Ich glaube fest daran: Der Fake ist eine unerlässliche Kulturtechnik. Er ist es schon immer gewesen, und ist es heute noch mehr als früher: Lesen, Schreiben, Faken. Der Unterschied ist, dass wir über unseren Bildungsweg sprechen und über das Faken, die heimliche Kernkompetenz der Erfolgreichen, schweigen. Für alle, die in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt erfolgreich oder überhaupt produktiv sein wollen, ist der Fake die Eintrittskarte ins Establishment. In jeder professionellen Umgebung.
Angesichts einer immer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung und Spezialisierung gewinnt der Faker das Vertrauen des Marktes, indem er zunächst vortäuscht, was er dann tatsächlich lernt und irgendwann beherrscht.
Der Fake ist also zweierlei – ein Versprechen an sich selbst und an den Markt: Ich kann, was ihr von mir erwartet, obwohl ich das noch nie bewiesen habe. Der Faker ist kein Hochstapler oder Betrüger, sondern versteht sich aufs Überleben im System. Gesellschaft und Markt verlangen den Fake, weil sie sich dann besser orientieren können. Fake ist keine negative Strategie der Kompetenzaneignung, sondern eine positive Strategie der Selbstbehauptung. Er ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Profi – erst Schein, dann Sein. Niemand faked zum Spaß, sondern weil es notwendig ist. Zu faken ist ein Zeichen, dass wir etwas wirklich können wollen. Dass wir sein wollen, was wir zu sein scheinen.
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