Sein euphorischer Gedankenwirbel wurde von Hauptmann Wölks fürsorglich klingender Stimme unterbrochen: „Lass dir von der Burgverwalterin Zivilkleidung und Proviant geben, mein Junge”, empfahl er. „Und noch etwas: Nimm dir Zeit! Geh unseren Truppen aus dem Weg! Teilweise sind sie versprengt, befinden sich in Auflösung – trotzdem Vorsicht, sie sind traumatisiert! Andere Truppenteile wiederum leisten heftigen Widerstand. Wenn die oder die Kettenhunde dich erwischen, nutzt dir dein Passierschein gar nichts. Ganz im Gegenteil. Für die bist du ein Deserteur, ein Volksverräter – Ungeziefer, das man vertilgen muss. Du weißt, dass das der offizielle Sprachgebrauch ist, also pass auf! Ich wünsche dir viel Glück.”
„Wir auch!”, rief Major Smith ihm hinterher. Aber Bernd hörte es nicht mehr. Er war bereits auf dem Weg nach Hause.
Major Walter G. Smith schilderte den Auslöser dieses ungewöhnlichen Zusammentreffens später einmal in einem Interview: „Als ich mit First Lieutenant Tricky am Ostrand von Friedberg einen jungen deutschen Soldaten am Randstein sitzen sah, dachte ich, man könnte es ja probieren. Ich wusste eigentlich nicht, warum iches tat. Ich glaube ich war erpicht darauf – verstehen Sie – und wollte einmal sehen, wie es zuging, wenn ich eine ganze Stadt zur Übergabe aufforderte”.
Heute künden drei große Gedenktafeln auf dem Burggelände von den Ereignissen am 29. März 1945 in Friedberg. Als Erinnerung daran, dass an diesem Tag die Vernunft über den blinden Gehorsam siegte. Aber auch an die Helden dieses Tages. An Hauptmann Wölk, Major Smith und noch einige andere. Einen Namen sucht man allerdings vergebens auf diesen Tafeln: Bernd Wegner. So wie auch seine Verlobte vergeblich auf seine Heimkehr wartete. Sein Sohn, der am 12. Juni 1945 zur Welt kam, hat ihn nie kennen gelernt.
Samstag, 9. Juli 2011, Bernheim
„Eine Lüge ist eine Lüge ist eine Lüge! Und das ist eine faustdicke Lüge. Das weißt du ganz genau!”
Vornüber gebeugt und die Hände auf dem Tisch abgestützt, schrie ich sie an. Plötzlich herrschte Totenstille, wo eben noch ein fröhliches Stimmendurcheinander geherrscht hatte.
Zugegeben, auch ich hatte vielleicht ein oder zwei Gläser Wein zu viel getrunken. Aber das war nicht die Ursache meines Ausbruchs, nur der Auslöser. Nein, ich war wütend. Einfach wütend. Und ich fand, dass ich das Recht dazu hatte. Daran änderten auch die verständnislosen und leicht verstörten Blicke der bisher so unbeschwerten Gesellschaft nichts. Und schon gar nicht der Tritt gegen mein rechtes Schienbein, dessen Verursacherin nur Sonja sein konnte. Wer auch sonst. Als Beweis dafür hätte es gar nicht ihres scheinheiligen Blickes gen Himmel bedurft.
Vor einigen Jahren hatten meine drei Cousinen und ich das Familienritual wieder aufleben lassen, uns reihum einmal im Jahr zu einem ausgedehnten Brunch zu treffen. Seit fast vier Stunden saßen wir nun zusammen und hatten uns vom Sektfrühstück zum warm/kalten Mittagsbuffet vorgearbeitet. Dem, was damals von uns als jugendlichen Zwangsteilnehmern mit abschätzigen Kommentaren begleitet worden war, maßen wir nun eine ganz andere Bedeutung bei: Wohl dem vorgerückten Alter geschuldet, schwelgten wir bei diesen Treffen in den „Weißt-du-noch”-Erinnerungen unserer Kindheit. Erinnerungen, die sich von Jahr zu Jahr vom Kern ihrer ursprünglichen Wahrheit entfernten, bis nur noch Fragmente übrig blieben. Mit Fantasie und der Verstrickung weiterer Erlebnisse ausgeschmückt, standen sie in keinem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mehr. Selbstverständlich spielte dabei die mehr und mehr reduzierte Tauglichkeit, die dem „Prost, du altes Haus” – oder wie Helgas Mann zu jeder Gelegenheit aufforderte: „Darauf trinken wir noch einen!” – geschuldet war, eine große Rolle.
In diesem Stadium pflegte meine bornierte „Lieblingscousine” Helga die immer gleiche Geschichte aus dem Müll einer ihrer Gedächtnisschubladen zu ziehen. Die anderen registrierten ihre unsortierten Absonderungen schon lange nicht mehr. Aber mich brachte sie von Jahr zu Jahr mehr auf die Palme. Mit rührseliger Stimme und tränenfeuchten Augen erinnerte sie an ihre Mutter, meine Tante Erika.
„Eine so sozial eingestellte Frau. So etwas gibt es heute ja gar nicht mehr. Du darfst nie vergessen, Darius, dass Mutti” – wie sie schon Muuhtti betonte – „deinen Vater nach dem Krieg in ihrer Firma aufgenommen hat, weil er als ehemaliger SS-Offizier ja sonst nirgendwo Arbeit bekommen hätte.”
Es war einfach ungeheuerlich, wie sie die Tatsachen verdrehte. Mein Vater hatte, wie viele seiner Generation, nur wenig über den Krieg und die Zeit danach erzählt. So schilderte er, dass er zu den ersten gehört hatte, die 1935 zum Helfer in Steuersachen bestellt worden waren. 28 Jahre alt war er damals. Dann hatte man ihn zur Wehrmacht eingezogen. Nach dem Krieg hatte er anfänglich keine Anstellung in seinem Beruf gefunden. Ein Mangel an Mut und Geld hatten ihn davon abgehalten, sich aus dem Nichts heraus selbständig zu machen. Eine Beamtenstelle im Finanzamt war für ihn nicht infrage gekommen. Erika, seine Schwester, hatte die Spedition ihres Mannes wieder aktiviert, der in Russland vermisst wurde. Sie hatte dringend einen vertrauenswürdigen Fahrer benötigt – ihren Bruder. Sie hatte Aufträge angenommen, bei denen Transportgut, welches nach den Gesetzen der Besatzungsmächte als illegal deklariert war, zwischen den besetzten Zonen hin und her transportiert werden musste. Gefährlich, aber äußerst lukrativ. Mehr als einmal hatte sich mein Vater nur über Wald- und Feldwege einer Durchsuchung und seiner Festnahme entziehen können. Für ihn war es in Ordnung, dass er letztlich nur mit einem Hungerlohn abgespeist worden war. „Damit bewahrte ich mir einen Anschein von Moral. Ich wurde als Fahrer bezahlt und nicht als Rechtbrecher”, hatte er einmal eingeräumt.
Wenn also jemand von dieser Zusammenarbeit profitiert hatte, dann Helgas Mutter. Am meisten ärgerte ich mich darüber, dass Helga meinen Vater in die Nähe eines Kriegsverbrechers stellte. Er war Offizier einer normalen Flakeinheit bei der Wehrmacht gewesen. Fotos bezeugten, dass er keine SS-Uniform getragen hatte und eine Tätowierung seiner Blutgruppe auf der Innenseite seines linken Oberarms wäre mir mit Sicherheit aufgefallen.
„Ich weiß auch nicht, weshalb du immer wieder damit anfangen musst”, versuchte ich etwas runterzufahren.
Sie hörte nicht zu und wandte sich stattdessen an ihren Mann Hubert, genannt Hubsi. Ein 15 Jahre jüngerer, inzwischen verblühter Schönling, mit dem Helga eine Symbiose eingegangen war: Hubsis frühkindliche Abhängigkeit von seiner Mutter war offenbar nicht in einem förderlichen Entwicklungsprozess aufgelöst worden, sondern wurde auf eine andere wichtige Bezugsperson übertragen: Helga. Man könnte es auch platter ausdrücken: Ihr Geld aus dem Verkauf der geerbten Spedition für Hubsis Jugend.
„Hast du das gehört? Hubsi, Huuubsi! Darius hat gesagt, ich würde lügen. Da fehlen mir die Worte.”
Er zuckte leicht mit den Schultern und sah mich flehentlich an, als wollte er mich um Hilfe bitten. Dann sagte er zögerlich: „Das hast du doch bestimmt nicht so gemeint, Darius.”
„Aber ganz sicher!”
Ich blickte zu Sonja. Sie verdrehte erneut die Augen.
„Darius”, Hubert erhob die Stimme und straffte die Schultern. Gespannt starrten ihn nun auch die bisher Unbeteiligten an. Und ich ohnehin. „Weißt du überhaupt, was eine Lüge ist?”
„Sag du es mir!”
„Eine Lüge ist eine Aussage, von der derjenige, der sie ausspricht, auch weiß, dass sie unwahr ist. Da steckt also Absicht hinter. Was du bestimmt meintest, ist Unwahrheit . Da mag die Aussage zwar nicht korrekt sein, aber der Äußernde weiß das nicht. Und Helga weiß das ja auch nur von ihrer Mutter und du von deinem Vater.”
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